Auf zwei Säulen fußt die moderne Physik: die Quantenphysik und die Allgemeine Relativitätstheorie. Sie gehören zu den größten Errungenschaften der Menschheit, denn sie können die Natur äußerst präzise beschreiben. Allerdings hat die Physik ein Problem: Wann immer sie in Gedanken Quantenmechanik und Relativitätstheorie zusammendenkt, stößt sie auf verwirrende Fragen. Stößt auf Widersprüche, gar auf blanken Unsinn.
Im Quantenuniversum hat beispielsweise eine Eisenkugel, solange niemand hinschaut, gar keinen festen Ort. Sie liegt zugleich hier und da und auch dort drüben. Laut Relativitätstheorie verformt sie jedoch zugleich die Raumzeit und übt auf diese Weise eine Schwerkraft auf alle Objekte in ihrer Umgebung aus. Bloß wo tut sie das, wenn sie laut Quantenmechanik gar keinen richtigen Ort besitzt?
Quantengravitation als Fusion der beiden Theorien?
Es scheint, als würden die Quantenphysik und die Relativitätstheorie ganz verschiedene Welten beschreiben – dabei sollen sie doch gemeinsam unsere Welt erklären.
Der Ausweg? Die Forschenden müssen Quantenphysik und Relativitätstheorie fusionieren, sie müssen die Schwerkraft quantenphysikalisch beschreiben: als Quantengravitation. Gelänge dies, wäre es mehr als nur die Lösung eines physikalischen Problems. Es wäre nicht weniger als eine Revolution. Die Quantengravitation würde erklären, wie die Welt beschaffen sein muss, damit die quantenförmige Materie den relativistischen Raum beeinflussen kann. Womöglich, so eine Überlegung, müsste die Raumzeit dazu selbst aus Quanten bestehen. Bestünden Raum und Zeit tatsächlich aus solchen kleinen Elementen, wäre sie nicht lückenlos-kontinuierlich, wie wir sie uns bislang vorstellen – sondern körnig. Sie könnte etwa aus kleinen Raumzeit-Elementen bestehen.
Eine Fusion beider Theorien würde unsere Vorstellung von der Welt, von ihrer inneren Zusammensetzung daher einmal mehr radikal verändern. Und sie könnte, so die Hoffnung in der Wissenschaft, endlich den Weg ebnen für eine umfassende Beschreibung der Natur. Für eine Weltformel, wie es in der Physik durchaus selbstbewusst heißt. Allerdings: Alle bisherigen Versuche, die Gravitation in Quantenform zu pressen, haben mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert.
Eine unbemerkte Rivalität
So sehr die zwei Theorien die Physik spalten, so wenig ist von ihrer Rivalität im Alltag bemerkbar. Der Apfel fällt auch ohne ihre Vereinheitlichung vom Baum, wie wir es seit eh und je gewohnt sind. Dass sich die beiden Weltbeschreibungen geschickt aus dem Weg gehen, liegt in ihrer unterschiedlichen Natur.
Die Quantenphysik dominiert den Mikrokosmos, das Zusammenspiel der kleinsten Objekte, der Atome, Elektronen, Photonen, in der Regel auf kleinsten Distanzen. Die Natur gönnt sich auf dieser Ebene einige bizarre Phänomene: etwa dass sich ein Partikel an mehreren Orten zugleich befindet, wenn er in Ruhe gelassen wird; aber auch dass er sich rein zufällig für einen der Orte entscheidet, sobald man ihn beobachtet.
Die Allgemeine Relativitätstheorie hingegen ist für das Große verantwortlich: für Planeten, für Sterne und Galaxien. Zufälle und Unschärfen sind in ihr nicht vorgesehen. Stattdessen sind Objekte zu jeder Zeit auf präzise zu berechnenden Bahnen unterwegs, alternativlos, als kämen sie auf Gleisen daher.
Wann immer Forschende hinschauen, sehen sie nur je eine Theorie dominant am Werk – die andere verschwindet dahinter. Allerdings gibt es, fernab des Alltags, auch Momente, an denen sich die beiden Theorien in die Quere kommen. Etwa gleich zu Beginn unseres Universums: Damals war – so der aktuelle Wissensstand – alle Masse des Kosmos auf einen Punkt konzentriert, bevor sie im Urknall zum heutigen Universum expandierte. Jener unendlich zusammengepresste Startpunkt heißt in der Relativitätstheorie Singularität.
Der Begriff »Singularität« ist in Wirklichkeit aber Ausdruck des Scheiterns der Physik. Dort werden Parameter unendlich klein oder unendlich groß: Unendlich viel Materie wird auf unendlich kleinen Raum zusammengepresst. Die Formeln liefern Unsinn, Vorhersagen laufen ins Leere. Es ist wohl kein Zufall, dass die Relativitätstheorie genau dann unsinnig erscheinende Ergebnisse liefert, wenn sie in den Mikrokosmos vordringt: in das Hoheitsgebiet der Quantenphysik. Verhindern womöglich die Quanten den Kollaps der Raumzeit, indem sie sich ihm entgegenstemmen? Nur wie?
Quantengravitation: Hilft eine Anleihe beim Licht?
Um dies zu beantworten, wollen Forschende aus den bislang zwei Theorien ein umfassendes Modell formen. Das Ziel: die Gravitation durch die Quantenphysik beschreiben. Das lässt die aber in ihrer bislang bekannten Form nicht zu, es braucht neue Ansätze.
Vielleicht hilft eine Anleihe beim Licht. Früher hielt man Licht für einen ununterbrochenen Fluss von Energie. Dann postulierte Einstein, dass sämtliche Strahlung in Form kleinster, nicht weiter teilbarer Pakete unterwegs ist, als Lichtquanten. Diese Erkenntnis hat vor mehr als 100 Jahren die Physik revolutioniert, hat geholfen, die Welt und viele ihrer zuvor unerklärlichen Phänomene besser zu verstehen. Und das, obwohl sie wenig intuitiv erscheint: Der Sonnenstrahl, der durchs Fenster auf die Haut fällt, fühlt sich an wie eine kontinuierliche Wärmequelle und nicht wie ein Hagel ungezählter kleiner Kanonenkugeln. Ganz ähnlich erleben wir es bei der Materie: Wir nehmen Wasser auch nicht als körnig wahr, obwohl wir wissen, dass es aus einzelnen Molekülen besteht.
Könnte Vergleichbares auch auf Gravitation, Raum und Zeit zutreffen? Könnten sie, auch wenn sie sich kontinuierlich anfühlen, auf der fundamentalen Ebene eine granulare Struktur besitzen, die sich erst offenbart, wenn Forschende genau genug hinschauen?
Die Theorie der „Schleifenquantengravitation“
Das behauptet die Theorie der „Schleifenquantengravitation“. Der Raum besteht demnach aus eindimensionalen Fäden, die Schleifen bilden. Die Fäden können sich überschneiden, sie können zusammenkleben. Sie lassen sich sogar verweben, zu einer Art dreidimensionalem Tuch. „Wenn man nicht genau hinschaut, dann scheint es kontinuierlich zu sein“, sagt Martin Bojowald, Schleifenquantengravitationsforscher an der Pennsylvania State University. „Hätten wir allerdings ein äußerst genaues Mikroskop, dann könnten wir theoretisch die einzelnen Schleifen sehen.“
Nach dieser These ist der Raum an sich nicht mehr das Grundlegendste, sondern er entsteht erst aus den Schleifen. Sie spannen ihn auf, er wird aus ihnen gewebt.
Bislang ist die Schleifenquantengravitation allerdings noch eine unvollständige Theorie: Um sich das physikalische Leben zu vereinfachen, haben die Köpfe hinter der Idee lediglich den Raum quantisiert und die Zeit vernachlässigt. Die darf jedoch nicht vergessen werden. „Das ist noch immer eines der großen Probleme“, sagt Bojowald. „Bislang ist nicht absehbar, wie das zu schaffen sein könnte.“
Aber die Theorie hat auch ihre Stärken, zum Beispiel bei der Erklärung des Urknalls. Damals war die Materie so verdichtet, waren die Abstände zwischen den Teilchen so gering, dass laut Relativitätstheorie akute Singularitätsgefahr bestand. Es brauchte einen Puffer – womöglich waren dies die Schleifen: Ähnlich den Poren eines Schwammes, der nur eine bestimmte Menge Wasser aufsaugen kann, könnte auch ein aus Schleifen bestehender Raum nur begrenzt viel Masse aufnehmen (beziehungsweise Energie – die Physik macht da keinen Unterschied). Beispielsweise könnten auf dem Volumen eines Protons dann höchstens etwas mehr als eine Billion Sonnenmassen zusammenkommen. „Diese Energiedichte ist zwar unvorstellbar groß, aber noch immer endlich“, sagt Bojowald.
Am Anfang eines Schleifenquantenuniversums stünde somit kein einzelner Punkt, in der alle Materie vereint war, sondern ein winziges, schwammartiges Gebilde.
(Text: Alexander Stirn)
Neben der Schleifenquantengravitation versuchen noch andere Hypothesen Raum und Zeit neu zu erklären, darunter die String-Theorie. Was sie über die Welt vorhersagen und wie man die verschiedenen Theorien experimentell überprüfen könnte, steht in der Titelgeschichte der PM 03/22.