(Text: Christiane Löll / Christine de Bailly)
Nazaré ist eine kleine Stadt nördlich von Lissabon und Treffpunkt der Surfer-Szene. Im Herbst und Winter rollen dort riesige Wellen an, nicht selten sind sie mehr als 20 Meter hoch. Im Jahr 2011 ritt ein Amerikaner dort auf einem Board eine Welle, deren Höhe mit fast 24 Metern angegeben wird, 2017 hat ein Brasilianer diesen Rekord offiziell gebrochen und eine Welle mit mehr als 24 Meter Höhe bezwungen.
Das spektakuläre Naturschauspiel ist möglich, weil mehrere Faktoren zusammentreffen. Wind erzeugt Wellen, die auf die Küste zulaufen. Der vordere Teil der Welle ist näher an der Küste, befindet sich also in flacherem Wasser und wird dadurch abgebremst. Somit ist der hintere Teil der Welle schneller, und sie stellt sich auf. »Das ist grob vergleichbar mit einem Stau, bei dem die vorderen Autos schon langsamer sind«, erklärt Küstenforscher Ralf Weisse vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Das Phänomen trifft nun vor Nazaré auf einen etwa 230 Kilometer langen und bis zu fünf Kilometer tiefen Unterwassercanyon, der nahezu rechtwinklig zur Küste verläuft. »Dort werden die Wellen weniger stark abgebremst und drehen deshalb in Richtung flaches Wasser«, so Ralf Weisse. Sie überlagern sich mit den langsamen Wellen, Strömungen können dafür sorgen, dass die Wogen noch steiler werden.
Fischer dort fürchten die ungeheuren Brecher als „Witwenmacher“
Lösen die Riesenwellen bei den Big-Wave-Surfern und ihren Fans Begeisterung aus, so bereiten sie Meeresforschern und Schifffahrtsexperten Kopfzerbrechen. Denn für Bohrinseln, Schiffe oder Windparks sind Monsterwellen eine Gefahr.
Lange Zeit hielt man die Geschichten über Wassergebirge, die sich mehr als 20 bis 30 Meter hoch auftürmen, für reines Seemannsgarn. Erst 1995 wurde die Existenz solcher Riesenwellen durch Messungen auf einer norwegischen Ölplattform in der Nordsee bewiesen. Seither befasst sich die Wissenschaft mit diesem zerstörerischen Phänomen, das noch immer viele Rätsel aufgibt. Fest steht, dass so manches bis dahin unerklärliche Schiffsunglück auf riesige Wellen zurückzuführen ist. Etwa das spurlose Verschwinden des deutschen Frachters »München« 1978 nördlich der Azoren.
Kaventsmann, Drei Schwestern und Weiße Wand sind bisher bekannt
Oft werden drei Typen der Wellen unterschieden: der Kaventsmann (eine extrem hohe Welle), die Weiße Wand (eine Wellenfront) und Drei Schwestern (schnell aufeinanderfolgende Wellen). Derzeit existieren mehrere Theorien, wie sie auf dem offenen Meer entstehen. Möglicherweise ziehen Wellen von ihren Nachbarn Energie ab und wachsen so in die Höhe. Demnach sind Seegebiete mit starken Meeresströmungen besonders prädestiniert: Bläst dort kräftiger Wind gegen die Strömung, entsteht heftiger Seegang – die Wellen werden kürzer und höher. Dabei holen die schnelleren Wellen die langsameren ein. Wenn sie sich überlagern, steigen sie zu gewaltigen Wasserwänden an – genau wie vor der portugiesischen Küste bei Nazaré.
Ein weiteres Phänomen, das zu Monsterwellen führen kann: Treffen Wellen aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander, entsteht die sogenannte Kreuzsee. Die Meeresoberfläche ähnelt dann einem Schachbrett. Auch hier kann es zur gefährlichen Überlagerung von mehreren Wellen kommen.
Dieser Artikel ist in P.M. Fragen & Antworten erschienen.