(Artikel: Angelika Franz)
Sie sind eines der rätselhaftesten Völker Europas. In den Jahren 567 und 568 n. Chr. ließen sich die Awaren im Karpatenbecken nieder. Weit über 200 Jahre lang dominierten sie den Osten Mitteleuropas, bis die Franken sie am Ende besiegten. Doch woher sie kamen, ist bis heute umstritten. Das Hauptproblem ist die Quelle: Fast alles Wissen über die Awaren ist von ihren Feinden überliefert, den Türken. Die behaupteten, bei den Awaren handele es sich um Onoguren, ein turksprachiges Reitervolk vom Nordostufer der Schwarzen Meeres. Die Awaren selbst gaben hingegen an, Abkömmlinge des mächtigen Rouran-Khaganats zu sein: eines Steppenreichs, das sich über das Gebiet der heutigen Mongolei und der westlichen Mandschurei erstreckte. Mongolei oder Schwarzes Meer, was ist richtig?
Ein Forschungsteam untersuchte das Erbgut von 66 Individuen aus dem Karpatenbecken
Um die Frage der Identität zu klären, untersuchte ein multidisziplinäres Forschungsteam aus Genetikern, Archäologen und Historikern das Erbgut von 66 Individuen aus dem Karpatenbecken. Acht der Toten gehörten zur Elite der Awaren; sie waren in den reichsten jemals entdeckten Gräbern dieses Volks bestattet worden. Die Studie konnte zeigen, dass die Awaren selbst ihre Geschichte korrekt überlieferten. Ihre Vorfahren stammten aus einer Region im Osten Zentralasiens, die einst zum Gebiet des Rouran-Khaganats gehörte. Das Erstaunliche daran: Zwischen dem Ausgangspunkt der Wanderung und ihrem Ziel im Kaukasus lagen über 5000 Kilometer, und die legten die Awaren in nur wenigen Jahren zurück.
»Es handelt sich um die schnellste bisher rekonstruierte Emigration der Menschheitsgeschichte«, erklärt Choongwon Jeong von der Seoul National University in Südkorea, einer der Co-Autoren der Studie. Und damit waren die Awaren noch nicht einmal am Ende: Innerhalb eines weiteren Jahrzehnts zogen sie weiter in das Gebiet des heutigen Ungarn und siedelten sich dort an.
Der Artikel ist in der Ausgabe 09/2022 von P.M. Schneller Schlau erschienen.