Suche nach neuen Antibiotika: Warum Forscher ihre Hoffnungen auf Schwämme aus der Tiefe setzen

von
Water, Sea, Ocean
Foto (C): NOAA
Sie seien ein möglicher Durchbruch gegen die steigenden Multiresistenzen: Forscher haben eine Reihe antimikrobiell wirksamer Stoffe aus einem bisher unbekannten Schwamm isoliert.

Die Vielfalt in den düsteren Abgründen könnte so groß wie die des Amazonaswaldes sein, glauben Biologen – vielleicht gar weitaus größer. Manche Forscher vermuten, dass die Tiefsee 100 Millionen neue Arten beherbergt, mehr Spezies als alle anderen Ökosysteme der Erde zusammen. Und: Jedes neu entdeckte Wesen könnte einzigartige Substanzen beherbergen. Stoffe, die sich medizinisch oder verfahrenstechnisch nutzen lassen.

Die enorm hohe Vielfalt in der Tiefe erklären sich Biologen damit, dass biologische Prozesse unter einer kilometerdicken Schicht von Ozeanwasser außerordentlich geschützt ablaufen. Die Temperatur von vier Grad Celsius schwankt kaum. Es ist still und ruhig. Über Jahrmillionen.

Meeresschwämme als lohnende Zielpunkte auf der Suche nach neuen Antibiotika

Gerade die zu den ältesten Tiergruppen auf der Erde gehörenden Schwämme hatten somit Zeit, eine außerordentliche Vielfalt zu entwickeln. Schwämme strudelten schon vor 600 Millionen Jahren Seewasser durch ihre Poren. Entsprechend vermuten Forscher noch Tausende oder sogar Zehntausende unentdeckte Arten dieser Tiergruppe in den ozeanischen Tiefen.

Schwämme sind »Filtrierer«, wie Ökologen sagen, sie ernähren sich von dem, was an den feinen Wimpern innerhalb der wasserdurchflossenen Kanäle in ihrem Inneren hängen bleibt: Nahrung, aber auch gefährliche Krankheitserreger. Es ist für Schwämme überlebenswichtig, eine effiziente Abwehr aufzubauen, die eventuell eindringende Bakterien, Viren und Pilze vernichtet.

Deshalb gelten Meeresschwämme – besonders in der Tiefsee – als lohnende Zielpunkte auf der Suche nach neuen Antibiotika. Allein zwischen 2001 und 2010 wurden in Schwämmen 145 antimikrobielle Substanzen nachgewiesen, die meisten davon aus Arten, die wie Tectitethya crypta im flacheren Wasser leben.

»Es könnte sein, dass eine ganz neuartige Wirkstoffklasse von Antibiotika dabei ist.«

Tiefseeökologin Kerry Howell, Leiterin der Atlantikexpedition.

Ein Superwirkstoff aus den Tiefen wird dringend gesucht: Seit mehr als 30 Jahren ist es der Pharmaindustrie nicht gelungen, eine neue Klasse von Antibiotika zu synthetisieren. Multiresistente Keime, gegen die kein Mittel greift, breiten sich rasant aus.

Ein möglicher Durchbruch gegen die steigenden Multiresistenzen?

In der Tiefsee des nordöstlichen Atlantiks stießen Forscher jüngst auf eine Reihe antimikrobiell wirksamer Stoffe: Isolieren konnten sie die Substanzen aus einem bisher unbekannten Schwamm. »Es könnte sein, dass eine ganz neuartige Wirkstoffklasse von Antibiotika dabei ist«, hofft die Tiefseeökologin Kerry Howell, die Leiterin der Atlantikexpedition. Die Substanzen seien chemisch anders als alles, was die Pharmaindustrie bislang hervorgebracht hat, so Howell. Und ein möglicher Durchbruch gegen die steigenden Multiresistenzen.

Gerade an heißen Tiefseequellen bergen Würmer und Bakterien ein überdurchschnittliches Potenzial, Wirkstoffe zu produzieren. Denn ihr Lebensraum – mit Temperaturen von teils mehreren Hundert Grad und chemisch reaktiven Flüssigkeiten – ist so extrem, dass sie sich ganz besonders angepasst haben. Sie haben Fähigkeiten entwickelt, die sich sonst nirgendwo auf der Erde finden und die sich, so die Hoffnung, technisch oder pharmazeutisch nutzen lassen.

Viele Reagenzien, die wir uns heute aus modernen technischen Verfahren nicht mehr wegdenken können, stammen aus dem Genom von Lebewesen, zum Teil aus der Tiefsee. So kommt die DNA-Polymerase, ein Enzym, das etwa bei Corona-Labortests eingesetzt wird, aus Bakterien; unter anderem aus Mikroben, die das Gestein von Tiefseevulkanen bevölkern. Bei Meeresorganismen ist die Chance erheblich höher als bei Landlebewesen, dass sie Erbinformationen für einen hilfreichen Stoff enthalten – im Fall potenzieller Krebsmedikamente, so schätzen Wissenschaftler, etwa um das Doppelte. Entsprechend höher ist die Chance auf wirtschaftlichen Erfolg und damit der Anreiz für Firmen, im Ozean Bioprospektion zu betreiben.

(Text: Andreas Weber)

Die P.M.-Redaktion besteht aus einer Hauptredaktion und einer Vielzahl freier Autorinnen und Autoren. Die Magazine „P.M.“, „P.M. Schneller schlau“ und „P.M. History“ erscheinen monatlich und beschäftigen sich mit Themen rund um Physik, Chemie, Biologie, Natur, Psychologie, Geschichte und vielen mehr.
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