Am frühen Morgen des 6. September 1896 treibt der Wind dichten Sprühregen durch den New Yorker Central Park. Im Rasen schimmern Pfützen, über denen Mücken schwirren. Doch um kurz nach 5 Uhr kommen drei junge Männer zur Nordwiese des Parks. Sie ziehen ihre Schuhe aus und laufen im Gleichschritt über das Gras.
Immer mehr Menschen treffen ein und marschieren barfuß über den nassen Rasen. Um 7 Uhr zählt ein Reporter der „New York Times“ 40 Männer und eine Frau. Der Wind weht durch ihre Kleidung, die Mücken machen sich über ihre blanken Füße her, Passanten beäugen sie argwöhnisch. Doch die Barfußgänger kümmert das nicht. Einer zeigt dem Reporter seine braun gebrannten Beine: „Das ist eine gute Farbe, oder?“
Auch in Boston, Chicago und an der US-Westküste laufen damals allmorgendlich Menschen durchs Gras, manchmal zu Hunderten. Sie sind überzeugt: Das Wasser des Morgentaus heilt ihre Leiden und härtet sie gegen Krankheiten ab. Dabei berufen sie sich auf einen 75 Jahre alten Heiler mit Sandalen, schwäbischem Dialekt und buschigen Augenbrauen: einen katholischen Pfarrer aus Oberschwaben. Sebastian Kneipp. Wer ist der Mann, der mit seiner Wasserlehre weltweit Menschen mobilisiert?
Ein Arzt eröffnet Sebastian Kneipp, dass er bald sterben werde
Sebastian Kneipp, geboren am 17. Mai 1821, wächst im oberschwäbischen Dorf Stephansried auf, das damals zum Königreich Bayern gehört. Seine Eltern haben einen kleinen Hof, der kaum genug zum Leben abwirft. Der Vater webt, um Geld dazuzuverdienen. Die Familie ernährt sich vor allem von Kartoffeln und Mehlspeisen. Fleisch gibt es nur an den höchsten Feiertagen. Als Elfjähriger muss Kneipp nach der Schule Vieh hüten oder weben. Wenn der Vater ihn bei der Arbeit mit einem Buch erwischt, schlägt er ihn. Der Webstuhl steht im feuchten Keller, damit der spröde Flachsfaden nicht reißt. Staub, Kälte und Feuchtigkeit machen Kneipp krank. Der Junge bekommt Tuberkulose und hustet blutigen Schleim.
Pfarrer möchte er werden, aber seine Eltern können und wollen nicht für das Gymnasium und ein Theologie-Studium zahlen. Doch Kneipp hat Glück. Als er 21 Jahre alt ist, nimmt ihn ein Pfarrer bei sich auf und bringt ihm Latein bei. Zwei Jahre später darf er ins Dillinger Gymnasium eintreten. Die deutlich jüngeren Mitschüler verpassen ihm den Spitznamen „Papa Kneipp“.
Doch seine Tuberkulose verschlimmert sich, ein Arzt eröffnet dem Mittzwanziger, dass er bald sterben werde. Kneipp sucht Hilfe in alten Büchern. Was er findet, ist die Schrift „Unterricht von Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ des schlesischen Arztes Johann Siegmund Hahn von 1738.
Der Schenkelguss soll die Beinmuskulatur lockern und gegen Krampfadern und Besenreiser helfen
Hahns Buch greift eine alte Idee auf: Bereits Pythagoras und Hippokrates hatten die Heilkraft von Quellwasser beschrieben. Das Rheuma des römischen Kaisers Augustus soll mit kalten Güssen geheilt worden sein. Hahns Kur ist radikaler: Man solle im kalten Fluss baden, bis man blau ist. Und so steigt Kneipp in seiner Verzweiflung ab November 1849 dreimal wöchentlich bis zum Hals in die Donau, für Sekunden nur. Tatsächlich: Die Tuberkulose verschwindet. Ob nun durch die Wasserkur oder nicht.
Einige Ärzte und Apotheker klagen Kneipp wegen Kurpfuscherei an
Für Kneipp aber ist es sein Aha-Erlebnis. Er experimentiert weiter. Während seiner Zeit im Münchner Priesterseminar überschüttet er einen lungenkranken Kommilitonen mit kaltem Wasser aus der Gießkanne. Der Student wird gesund. Bald nennen ihn die anderen Studenten „Eisbär“.
Auch als Kneipp 1852 nach Oberschwaben zurückkehrt und als Kaplan nacheinander in Biberbach, Boos und Augsburg dient, behandelt er Kranke. Der Augsburger Bischof sieht Kneipps Wirken zunächst kritisch. Als ihm immer mehr Schäfchen von Heilungen berichten, lässt er Kneipp gewähren – solange der seine Pflichten als Priester und Seelsorger gewissenhaft erfülle.
Einige Ärzte und Apotheker aber sehen die Sache weniger gelassen. Mehrfach klagen sie Kneipp wegen Kurpfuscherei an. Der Pfarrer verteidigt sich vor Gericht damit, dass er nur jene behandelt habe, die sonst keine Hilfe erfahren hätten. Der Babenhauser Landrichter verurteilt ihn 1853 zu zwei Gulden Strafe – und bittet ihn kurz darauf um Güsse gegen sein Rheuma. Als 1854 die Cholera ausbricht, kümmert sich Kneipp entgegen weiterer Verbote um Kranke und heilt angeblich 42 Menschen. Von da an wird er bei ähnlichen Verfahren immer freigesprochen.
Kneipps rustikale Methoden fallen auf fruchtbaren Boden
1855 wird Kneipp Pfarrer und Beichtvater des Nonnenklosters im schwäbischen Wörishofen. Mit ihm erlebt der kleine Ort große Veränderungen: Weil immer mehr Kranke zu ihm pilgern, bauen die Dorfbewohner Gasthäuser, eine Heilanstalt, ein Kurhaus, ein Bad und ein Heim für kranke Kinder, betrieben von Mönchen der Barmherzigen Brüdern und Nonnen.
Kneipps rustikale Methoden fallen auf fruchtbaren Boden. Die Städte wachsen damals rasant, Eisenbahnen rollen durchs Land, und Rauch steigt aus den Fabrikschloten. Vereine wie der „Wandervogel“ reagieren darauf, indem sie das Leben in der Natur idealisieren. Kneipps Wasser- und Kräuterkuren passen gut zu dieser Sehnsucht.
Die Gewerbeordnung des 1871 gegründeten Deutschen Reiches schafft außerdem de facto rechtliche Beschränkungen für den Arztberuf ab. Damit darf jeder Heilkunde anbieten, egal ob mit abgeschlossenem Studium oder ohne. Bald praktizieren Hunderte Laienärzte naturheilkundliche und homöopathische Methoden, die nach heutigem Wissen höchstens Placebo-Wirkung haben.
„Ich bin nicht Puritaner und gestatte gern ein Glas Wein oder Bier.“
Kneipp
Kneipp behauptet gar nicht erst, ein medizinischer Fachmann zu sein
In der akademischen Medizin liegen Fortschritt und Irrweg in den 1870ern und 1880ern nahe beieinander. Einerseits erforschen angesehene Mediziner wie Robert Koch bakterielle Krankheitserreger. Andererseits spritzt ein britisch-französischer Arzt seinen Patienten ein Verjüngungs-Elixier unter die Haut, das er aus den Hoden getöteter Meerschweinchen gewinnt. In diesem Spannungsfeld überzeugt Kneipps Lehre viele Menschen. Zwar verspotten Schulmediziner ihn als „Scharlatan“ und „großartigen Pfuscher“. Doch Kneipp behauptet gar nicht erst, ein medizinischer Fachmann zu sein. Er verweist lediglich auf seine Erfolge. Konsequent enthalten seine Bücher „Meine Wasser-Kur“ und „So sollt ihr leben“ weder Fachsprache noch Studien, sondern Anekdoten und konkrete Ratschläge. Enge Schuhe, Korsette und Wollhemden führen zu Verweichlichung, Leinen und Sandalen dienen der Gesundheit. Kneipp schreibt: „Selbst gesponnen, selbst gemacht, ist die beste Landestracht.“
Auch eine gute Ernährung etwa mit Vollkornbrot gehört für ihn zu einem gesunden Leben. „Ein bedeutender Arzt behauptet, wenn man einem Hunde nur Brod vom feinsten Mehl und Wasser gäbe, so krepiere er in 40 Tagen“, schreibt er. „Mahlt man aber das ganze Korn, also mit der Schale, und gibt ihm das aus diesem Mehl bereitete Brod, dann lebt er viele Jahre.“ Tee, Kaffee, Schnaps und scharfe Gewürze jedoch seien schlecht. Kneipp versichert den Lesern jedoch: „Ich bin nicht Puritaner und gestatte gern ein Glas Wein oder Bier.“ Die Bücher werden zu Bestsellern.
Auch Herzöge, Prinzen und Maharadschas müssen sich anstellen
Eine von Kneipps Kuren: barfuß durch nasses Gras laufen, um den Körper zu stärken
Ende der 1870er-Jahre sammeln sich in Wörishofen Hilfesuchende aus Georgien, den USA und aus Chile. Schon eine halbe Stunde bevor Kneipps morgendliche Sprechstunde beginnt, tummeln sich die Wartenden mit Dolmetschern in seinem Vorraum. Auch Herzöge, Prinzen und Maharadschas müssen sich anstellen.
Dann bittet Kneipp die Gäste einzeln ins Sprechzimmer. Neben ihm sitzen sein Sekretär, sein treuer Hund Spitzl und ein paar Ärzte, die seine Kur erlernen wollen. Die Patienten präsentieren ihre verbundenen Köpfe, lahmen Glieder oder sonstige Leiden. Kneipp verordnet Güsse, Wickel und Bäder; oft fertigt der Meister am Tag mehr als 200 Kranke ab. Ob Hochwohlgeboren oder Bauer, ist ihm egal. Einer Gräfin, die sich vorstellen will, entgegnet er in breitem Schwäbisch: „Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie sind, sondern was Ihnen fehlt.“
Nur bei der Bezahlung macht Kneipp Unterschiede. Als ein Student nach dem Honorar fragt, sagt er: „Mein Gott, da bin ich schon ganz froh, wenn Sie mich nicht anbetteln.“ Reiche Gäste aber bittet er um eine Spende für das Kinderasyl – offenbar reicht das Geld zusammen mit den Tantiemen für seine Bestseller, um den Kurbetrieb und die Bauprojekte zu bezahlen.
1892 überreden Kneipps Vertraute ihn zu einer Vortragsreise durch Europa. In Ungarn behandelt er Erzherzog Joseph von Österreich wegen Ischias-Beschwerden, in Rom Papst Leo XIII., der ihn zum Kammerherrn ernennt und ihm eine goldene Medaille schenkt. Der Ruhm scheint Kneipp jedoch nicht viel zu bedeuten – lieber kehrt er rasch in die Heimat zurück.
Eine Art Guru einer weltweiten Gesundheitsbewegung
In den 1890er-Jahren pilgern jährlich bereits gut 6000 Menschen nach Wörishofen. Im Dorf ist trotzdem nicht viel los. Einmal bricht eine Gruppe gelangweilter Kurgäste zu einem Konzert im drei Kilometer entfernten Mindelheim auf, obwohl eigentlich Wassertreten auf ihrem Kurprogramm steht. Immerhin, sie laufen barfuß und steigen unterwegs in einen Bach. In der Sprechstunde fragen sie Kneipp, ob sie etwas Falsches getan haben. Der Pfarrer sagt nur: „Barfuß laufen an der frischen Luft ist immer richtig.“
Einer aus der Gruppe wandert nach Amerika aus, gründet den „Kneipp-Verein, No. 1, New York City“ und gewinnt immer mehr Anhänger. Er lässt sich von der Stadtverwaltung sogar das Recht auf Graslaufen zusichern, was zuvor verboten war. Und so marschieren 1896 jeden Morgen Barfüßige durch den Central Park – selbst am windigen Morgen des 6. September 1896.
Der schwäbische Pfarrer wird eine Art Guru einer weltweiten Gesundheitsbewegung. Die „Washington Post“ kürt ihn gar zur drittberühmtesten Person der Welt – nach dem damaligen US-Präsidenten Grover Cleveland und dem ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck. Der Wasserdoktor leidet da bereits an einem Krebsgeschwür im Unterleib. Operieren lassen will er sich nicht; er setzt auf seine Wasserkur. Am 17. Juni 1897 stirbt Sebastian Kneipp.
Vollkornbrot, Sandalen und Leinenunterwäsche
Die Bewegung, die sich auf ihn beruft, kommerzialisiert sich da bereits. Geschäftemacher in den USA gründen die „Kneipp Cure Company“. Sie bauen Bäder, drucken Zeitschriften, verkaufen Vollkornbrot, Sandalen und Leinenunterwäsche.
Alfred Baumgarten, Kneipps engster Mitarbeiter und Leiter der Wörishofener Badeanstalt, warnt eindringlich vor solchen Praktiken. „Diese Heilanstalten diskreditieren die Methode und treiben Missbrauch mit dem Namen Kneipp“, schreibt er. „Sie arbeiten unseren stets zum Spott geneigten Gegnern in die Hände.“
Ärzte haben unterdessen Impfstoffe für Typhus und Diphtherie entwickelt. Die Erfolge stärken die Glaubwürdigkeit der Schulmedizin und widerlegen Kneipps Grundsatz: „Was das Wasser und die Kräuter nicht heilen, bleibt meist ungeheilt.“ Aber Tausende Anhänger bleiben seinen Lehren treu, organisieren sich im Kneippbund und pilgern weiter nach Wörishofen. Heute können sie sich teilweise bestätigt sehen: Studien zeigen, dass Anwendungen mit kaltem Wasser das Immunsystem stärken und bei Fieber, Lungenentzündungen oder Durchblutungsstörungen helfen.
Auch Kneipps Ernährungstipps wirken nach. In Norwegen backt man noch heute das Vollkorn-„Kneippbrød“ – das meisterverkaufte Brot des Landes.
(Autor: Martin Pfaffenzeller)