Autor: Siebo Heinken
Winfried Schütte war schon beinahe zurück auf dem Weg zu seinem Auto, als er auf dem Hauptkamm des Harzhorns noch einmal seinen Metalldetektor einschaltete und die Sonde über dem Boden schwenkte. Den ganzen Tag hatten er und sein Begleiter Rolf Peter Dix den Waldboden abgesucht und kaum etwas gefunden. Nun hörte er auf einmal einen deutlichen Piepton in seinem Kopfhörer. Schütte wühlte im Erdreich – und hielt plötzlich einen spitzen Gegenstand in den Händen, nur wenige Zentimeter lang und von Rost umhüllt. Er sah aus, als gehöre er zu einem Pfeil. Oder war er von einer Armbrust abgeschossen worden? Und wann? Würde der Fund die beiden Männer doch noch zur sagenhaften Burg des mittelalterlichen Grafen vom Harzhorn führen, nach der sie suchten?
Fortan durchsuchten die Schatzsucher das Gebiet nahe der Autobahn 7 in Südniedersachsen immer wieder mit ihren Sonden, spürten weitere Speerspitzen und Geschossbolzen auf und nahmen sie mit nach Hause. Dass ihre Ausgrabungen illegal waren, war ihnen nach eigenen Angaben nicht bewusst. Und erst recht nicht, auf welchen Schatz sie tatsächlich gestoßen waren.
Aus einem Sensationsfund wird ein archäologisches Großprojekt
Denn Schütte und Dix waren keine Archäologen, sondern Raubgräber. Unrechtmäßige Sondengänger suchen auch heute noch in Wäldern und auf Feldern nach Militaria oder anderen historischen Gegenständen – entweder um sie zu sammeln oder um sie zu Geld zu machen. Erst Jahre nach ihrem ersten Fund im Jahr 2000 meldeten sich Schütte und Dix bei der Kreisarchäologin Petra Lönne in Northeim, diese zog weitere Fachleute zurate. Anders als die Laien mit ihren Sonden wussten die Experten die Gegenstände richtig zu deuten: Die Geschossbolzen stammen von römischen Katapultgeschützen. Und der Lampenhalter erwies sich bei genauer Betrachtung als eine Hipposandale, die Maultieren angelegt wurde, um ihre Hufe zu schonen und den Tieren auf rutschigem Boden zu sicherem Tritt zu verhelfen.
So begann die Erforschung der Schlacht am Harzhorn, ein archäologisches Großprojekt nach einem sensationellen Fund. Denn das Gefecht datiert nicht etwa ins Mittelalter, sondern in den Herbst des Jahres 235, als germanische Krieger an diesem unübersichtlichen Höhenzug einer römischen Armee und ihrem Tross auflauerten.
Die Himmelsscheibe von Nebra stammt aus der Bronzezeit. Sie wurde 1999 von Raubgräbern entdeckt und beschädigt.
Um das weite Gelände abzusuchen, engagierten die Wissenschaftler eine Gruppe von zertifizierten Sondengängern, die Ostfalen-Sucher. Auf einer Distanz von zwei Kilometern brachten die freiwilligen Helfer insgesamt rund 3500 Objekte und Spuren des erbitterten Kampfes zutage.
»Die Illegalen sind ein Fluch«, sagt der niedersächsische Landesarchäologe Henning Haßmann. »Andererseits haben wir durch die vielen geschulten und loyalen Bürgerwissenschaftler einen unglaublichen Gewinn an Informationen. Ein tolles Beispiel dafür, wie Schwarmintelligenz zu mehr Wissen führt.«
Die Illegalen sind ein Fluch. Durch geschulte Bürgerwissenschaftler haben wir hingegen einen unglaublichen Gewinn an Informationen.
Landesarchäologe Henning Haßmann
Modernen Wissenschaftlern geht es längst nicht allein um den Fund an sich – sondern vor allem um den Befund. Archäologen wollen vergangene Ereignisse und Lebenswelten rekonstruieren. Es reicht ihnen daher nicht, Pfeilspitzen oder Goldschätze einfach aus dem Boden zu buddeln. Sie suchen nach dem Kontext der Fundstücke. Und wollen wissen, in welcher Erdschicht sie gelegen haben, und untersuchen, ob es Zusammenhänge mit anderen historischen Gegenständen geben könnte.
Holzreste ermöglichen den Wissenschaftlern, das Alter zu bestimmen, Pollen zeigen ihnen an, welche Pflanzen seinerzeit am Fundort wuchsen. Hauspfosten und der Verlauf von Gräben zeichnen sich noch nach Jahrtausenden als Verfärbungen ab. Menschliche Knochen in Urnen werden forensisch untersucht. Abfall gibt preis, von welchen Tieren sich die Bewohner eines Ortes einst ernährten. Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie die Menschen einst wohnten, wie sie wohl dachten und handelten, welcher Art ihre sozialen Beziehungen waren, womit sie arbeiteten: Das ist Reiz und Bedeutung der Archäologie.
Jeder Fund wird mittels GPS genau kartiert
Nicht nur für Wissenschaftler, auch für Laien birgt diese Art der Geschichtsforschung eine große Faszination. Sie forschen in Archiven, werten Luftbilder, Landkarten und Datenbanken aus. Sie nehmen an Ausgrabungen teil und suchen auf Äckern nach Keramikscherben und anderen Zeugnissen vergangener Zeiten. Einer von ihnen ist Matthias Glüsing, der im Landkreis Stade eng mit dem dortigen Kreisarchäologen Daniel Nösler zusammenarbeitet. In jeder freien Minute zieht mit seinem Metalldetektor los, auf der Suche nach Münzen und Knöpfen, Schnallen und Gewandnadeln. Bei jedem Fund verzeichnet er mittels GPS dessen genaue Lage. Zudem achtet er auf das ihm zugeteilte Gebiet, hält manchmal sogar illegale Sondengänger fern.
Wie die Mitglieder der Luftbild AG in Niedersachsen um den »fliegenden Pastor« Heinz-Dieter Freese aus Verden an der Aller. Schon als Schüler entwickelte Freese Interesse für die Vor- und Frühgeschichte, später für die Luftbildarchäologie, die er in Niedersachsen aufbaute – eine weitere Form des Engagements von Laien in der Archäologie. Privatpiloten suchen von kleinen Flugzeugen aus Farbveränderungen auf Ackerflächen oder Auffälligkeiten im Wuchs von Getreide. Auch wenn nur ein Schatten zu erkennen ist: Geschulte Augen können daraus lesen, wo vor Tausenden Jahren Bauwerke gestanden haben: Burgen, Siedlungen, Grabanlagen.
Aus der Luft sehe ich Spuren aus dem vergangenen Jahrhundert, wie Bombenkrater und Schützengräben.
Heinz-Dieter Freese, Luftbild-AG Niedersachsen
Seit 25 Jahren befliegt Freese das Gebiet zwischen Hannover, Bremen und Minden – stets als Co-Pilot, denn seinen Blick richtet er auf die Felder. »Ich sehe natürlich auch Spuren aus dem vergangenen Jahrhundert wie Bombenkrater und Schützengräben und muss dann ganz schnell beurteilen, worum es sich gerade handelt«, sagt er. »Das ist unglaublich spannend!«
Als der inzwischen pensionierte Pastor kürzlich jahrzehntealte Aufnahmen des Luftbildpioniers Otto Braasch aus der Nähe von Hannover noch einmal unter die Lupe nahm, fiel ihm ein sonderbares Geviert mit abgerundeten Ecken auf. Er überflog den Ort noch einmal selbst, und siehe da: Die Verfärbung war auch heute noch sichtbar. Daraufhin schickte das Landesamt für Denkmalpflege zertifizierte Sondengänger los, sie stießen an der Stelle tatsächlich auf Hunderte Funde aus römischer Zeit, Sandalennägel und mehr als 100 Münzen.
Mehr als zwei Jahrhunderte nach dieser Rebellion, im Herbst 235, lauerten knapp 100 Kilometer südlich am Harzhorn erneut germanische Krieger einer römischen Armee auf. Die Pfeile und Bolzen aus dieser Schlacht, die Winfried Schütte und Rolf Peter Dix auf der Anhöhe nahe der Autobahn 7 mithilfe ihrer Metallsonden illegal bargen, lagern heute im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege in Braunschweig. Für die Archäologen sind sie weitgehend wertlos, denn niemand kann mehr sagen, wo und wie die Geschosse im Boden lagen: Der Fundzusammenhang ist zerstört. »Besonders ärgerlich ist es, wenn wichtige archäologische Funde zu Schleuderpreisen verramscht werden«, sagt Landesarchäologe Haßmann. »Was dem Naturschutz gelungen ist, daran muss der archäologische Denkmalschutz noch arbeiten: das Bewusstsein zu schärfen, dass archäologische Artefakte wie aussterbende Tierarten nicht wiederherzustellen sind. Raubgräber vergehen sich am kollektiven Erbe der Allgemeinheit.«
Die Funde der Bürgerforscher zeichnen den Weg der Römer nach
Archäologische Grabungen bestätigten im Anschluss, dass sich hier, unweit des heutigen Ortes Wilkenburg, offenbar ein Marschlager für wahrscheinlich 20000 römische Soldaten befunden hatte. Es stammt aus der Zeit des »gewaltigen Kriegs«, eines Aufstands germanischer Stämme gegen die römischen Besatzer zwischen den Jahren 1 und 5 n.Chr., der zuvor nur aus schriftlichen Quellen bekannt gewesen war.
Auf dem Harzhorn fanden die Sondengänger der Ostfalen-Gruppe und hauptberufliche Grabungsassistenten mit ihren Detektoren eine Fülle weiterer Pfeil- und Lanzenspitzen, ein Kettenhemd, Überreste von Trosswagen, Teile von Speeren und Hunderte römischer Sandalennägel. Alle Funde wurden verortet, die Geschosse restauriert und analysiert, die Schussrichtung untersucht und auf digitale Karten übertragen. Innerhalb von zehn Jahren konnten die Archäologen so – mithilfe der Citizen Scientists – erforschen, welchen Weg der römische Tross nahm, wo die Germanen aus dem Hinterhalt angriffen und wie sich die Römer wehrten. Auf dem Hauptkamm, in der wohl letzten Schlacht zwischen Römern und Germanen hoch im Norden.
Eine ausführlichere Version dieses Artikels ist in der Ausgabe 01/2020 von P.M. Thema erschienen.