(Text: Jochen Metzger)
James McGaugh konnte es nicht glauben. Der kalifornische Gedächtnisforscher hatte die E-Mail einer Frau namens Jill Price erhalten. Ihre Behauptung: Sie könne sich seit ihrer Jugend an jeden Tag ihres Lebens erinnern. Das widersprach allen Lehrbüchern der Psychologie. War Price eine Hochstaplerin? Wohl kaum. Sie prahlte nicht mit ihrer Gabe, sondern empfand sie im Gegenteil als »unkontrollierbar und total anstrengend«. McGaugh unterzog sie mehreren Tests. Tatsächlich: Jill Price hatte nicht gelogen. McGaugh nannte ihr ein beliebiges Datum – sie konnte sofort den entsprechenden Wochentag nennen und in vielen Details erzählen, was sie an jenem Tag erlebt und in den Fernsehnachrichten gesehen hatte.
Seither sind rund 25 Jahre vergangen. Jill Price wurde zum ersten Fall für das, was die Fachwelt als »Highly Superior Autobiographical Memory« oder kurz »HSAM« bezeichnet. Bislang hat die Wissenschaft rund 100 solcher Super-Memorizer dokumentiert. Jetzt haben Forschende der Universität La Sapienza in Rom die vorliegenden Studien in einem Übersichtsartikel zusammengefasst. Ihr Fazit: HSAM könnte wichtige Hinweise im Kampf gegen Demenz und Alzheimer liefern und überhaupt das Rätsel menschlicher Erinnerung lösen. Das größte Problem: Es mangelt an entsprechenden Testpersonen. Denn viele HSAM-Personen ahnen nicht, dass ihre Fähigkeiten sich massiv von denen anderer Menschen unterscheiden.
IG 130? 140? 150? Mitnichten. Super-Memorizer schneiden bei IQ-Tests nicht überdurchschnittlich ab, ebenso wenig bei Abinoten
Was fasziniert: Abgesehen von ihrem Erinnerungsvermögen sind HSAM-Menschen rätselhaft normal. Sie haben kein fotografisches Gedächtnis, sie bekommen im Abitur keine besseren Mathenoten und können Gedichte nicht leichter auswendig lernen. Super-Memorizer sind als Gruppe nicht überdurchschnittlich intelligent. »Wir wissen, dass die Betroffenen meist sehr normal abschneiden bei allem, was nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun hat«, resümiert Giuliana Mazzoni.
Ist es möglich, dass in jedem von uns ein Super-Memorizer steckt? Giuliana Mazzoni nickt. HSAM-Menschen erinnern sich mühelos an fast alles, was sie erlebt haben. »Wenn wir verstehen, wie sie das tun, wäre das ein wichtiger Erfolg für die Forschung. Das könnte uns in der Tat zeigen, ob wir vielleicht alle genauso viele Erinnerungen haben – und wie wir auf diese Erinnerungen zugreifen können.«
Hier liegt die große Hoffnung der HSAM-Forschung: Wer den Schlüssel findet zu den verschütteten Erinnerungen in unserem Kopf, hätte womöglich auch eine Waffe gegen Demenzerkrankungen entdeckt. Die Super-Memorizer wären der lebende Beweis, dass ein erstklassiges Gedächtnis für alle möglich ist – auch noch im hohen Alter.
Dieser Artikel ist gekürzt und stammt aus dem PM Magazin 09/24. Möchtest du noch mehr über Super-Memorizer erfahren und weitere, spannende Artikel lesen? Dann entdecke die faszinierende Welt des Wissens mit dem Testabo des P.M. Magazins!
