Demograf Paul Morland im Interview: „Es passieren lauter gute Dinge“

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Die Bevölkerung wächst langsamer, die
Menschen werden immer älter. Demograf Paul Morland erklärt, wie der Wandel unsere Welt prägt.

Interview: Nora Saager

Die Grundlagen der Demografie, sagt Paul Morland, sind eigentlich ganz simpel. Menschen werden geboren, sie sterben, sie wandern ein oder aus. So verändert sich die Bevölkerung einer Region, eines Landes, der ganzen Welt. Diese Verschiebungen prägen die militärische und ökonomische Macht von Nationen. Sie prägen Gesellschaften und ihre Werte. Sie können Kriege befeuern oder den Frieden fördern. Paul Morland forscht am Birkbeck-College der Universität London. Die Demografie, sagt der Brite, ist untrennbar mit der Historie der Welt verwoben. Und mit ihrer Zukunft.

Über Jahrtausende wuchs die Weltbevölkerung im Schneckentempo. Doch kurz nach 1800 fiel die Marke von einer Milliarde Menschen. Von da an wurden wir immer schneller immermehr. Was hatte sich geändert?

Die Bevölkerung wuchs bereits vor dem 19. Jahrhundert, weil sich die landwirtschaftlichen Praktiken verbesserten. Aber es war ein sehr langsamer Prozess, ein Auf und Ab. Jedes dritte Kind erlebte seinen ersten Geburtstag nicht. Hungersnöte und Seuchen wüteten. Während des Dreißigjährigen Krieges starb in Deutschland ein Drittel der Bevölkerung. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann die Phase des stabilen Wachstums, und zwar mit der industriellen Revolution in England.

Was hatte der Siegeszug von Maschinen und Fabriken mit der Bevölkerungszahl zu tun?

Ohne eine wachsende Bevölkerung, die in den Fabriken arbeitete, hätte England nicht zur Werkbank der Welt werden können. Der außergewöhnliche Produktivitätssprung ermöglichte massive Exporte. Mit der Besiedelung von Kanada, Australien und Neuseeland begann aber auch die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus diesen Gebieten. Erstmals mussten sich die Engländer nicht mehr von dem ernähren, was ihre Insel hergab, sondern hatten Zugang zu Ressourcen auf mehreren Kontinenten. Das warf die herrschende Vorstellung über den Haufen, die Größe der Bevölkerung sei durch die Nahrungsmittelproduktion gedeckelt. England entkam als erstes Land dieser Beschränkung, dicht gefolgt von den USA und Deutschland.

England lieferte also die Blaupause für die weltweite Bevölkerungsexplosion?

Ja, dort fand der demografische Wandel zuerst statt. Er vollzieht sich in mehren Schritten. Zuerst haben wir eine kleine Bevölkerung, die wächst und wieder schrumpft – viele Geburten, viele Todesfälle, eine hohe Kindersterblichkeit. In Phase zwei finden Veränderungen statt, wie wir sie im England des 19. Jahrhunderts zuerst gesehen haben. Frauen erhalten Zugang zu Bildung, ein rudimentäres Gesundheitssystem entsteht, mehr Menschen leben in Städten und haben Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Bevölkerung wächst rasant, weil die Geburtenrate hoch bleibt und insbesondere die Kindersterblichkeit stark fällt. In Phase drei sinkt die Geburtenrate, und das Wachstum verlangsamt sich. Phase vier ist theoretisch der Endpunkt: Jede Frau hat im Schnitt zwei Kinder, und die Sterberate pendelt sich auf einem niedrigen Niveau ein. Nun sind die Nationen dieser Welt gesellschaftlich und kulturell höchst unterschiedlich.

Vollzieht sich der Wandel tatsächlich überall nach Schema F?

Er verläuft überall ähnlich, auch wenn manche Länder früher dran sind als andere. Selbst in den afrikanischen Nationen mit der höchsten Kindersterblichkeit ist die Situation deutlich besser als noch vor 30 oder 40 Jahren. Sie befinden sich in Phase zwei: Die Zahl der Todesfälle fällt rapide, die Bevölkerung explodiert. Kenia brachte es zeitweise auf Wachstumsraten von vier Prozent, das entspricht einer Verdopplung innerhalb von 18 Jahren. Zum Vergleich: Die englische Bevölkerung wuchs niemals um mehr als ein Prozent im Jahr.

Woher kommt dieser enorme Geschwindigkeitsschub?

Die Pioniere in Europa mussten sich im 19. Jahrhundert erst ihren Weg bahnen. Sie entwickelten neue Heilmittel, bauten bessere Kanalisationen, verbesserten die Hygienestandards. All diese Methoden sind nun bereits bekannt und erprobt. Außerdem steigt das Bildungsniveau heutzutage schneller, und es sind viel günstigere und effektivere Verhütungsmittel verfügbar als im 19. Jahrhundert. 1860 hatten britische Frauen im Schnitt sechs Kinder. Es dauerte 50 Jahre, bis sich diese Zahl halbiert hatte. In China oder im Iran sank die Kinderzahl pro Frau im 20. Jahrhundert innerhalb einer einzigen Dekade von sechs auf drei.

Wie wichtig ist die Bildung der Frauen für die demografische Entwicklung?

Ich würde sagen, dass sie der wichtigste Faktor ist. Ich kenne zwar eine Frau, die sechs Kinder und einen Abschluss von der University of Cambridge hat. Aber das ist die Ausnahme. Auf gesellschaftlicher Ebene gilt: Je besser eine Frau ausgebildet ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie eine große Familie hat.

Woran liegt das? Sind die Frauen einfach nicht scharf darauf, sechs Geburten durchzustehen?

Der erste Punkt ist: Gebildete Frauen sind in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Punkt zwei ist: Gesellschaften, in denen Frauen Zugang zu Bildung haben, sind unweigerlich Gesellschaften, in denen sie auch Zugang zu Verhütungsmitteln haben. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, stellt sich die Frage: Was wollen die Frauen? Und es zeigt sich: Eine Akademikerin will in der Regel keine sechs Kinder.

Welche Rolle spielen wirtschaftliche Faktoren bei der Familienplanung?

In traditionellen, landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften ist jedes Paar Hände nützlich. Auch ein Sechsjähriger kann auf dem Feld helfen oder Tiere hüten. Die Eltern haben einen wirtschaftlichen Anreiz, viele Kinder zu bekommen. Wer seinem Nachwuchs hingegen eine gute Ausbildung ermöglicht, muss investieren. Ein gutes Beispiel sind ostasiatische Länder wie Korea: Die Eltern dort sind besessen von den akademischen Erfolgen ihrer Kinder. Sie investieren Unmengen in Nachhilfe und Studiengebühren. In diesen hochgebildeten Gesellschaften haben die Menschen lieber ein Kind als viele Kinder, in die sie nicht im selben Maße investieren könnten.

Ist das die Zukunft – lauter Einzelkinder?

Nicht unbedingt. Wir befinden uns nun in der fünften Phase des demografischen Wandels: Nahezu alle Frauen sind gebildet, alle haben Zugang zu Verhütungsmitteln. Die Fertilitätsrate hängt nicht mehr von materiellen Dingen ab, sondern von der Kultur, der Ideologie, der Einstellung. Ist das Land kinderfreundlich oder nicht? In Israel sind die Frauen sehr gebildet, und trotzdem haben sie im Schnitt drei Kinder. Es gibt aber auch Länder, in denen die Fruchtbarkeit dauerhaft unterhalb des Ersatzniveaus von rund 2,1 Kindern pro Frau liegt, dort ist also die Sterberate höher als die Geburtsrate. Beispiele sind Japan, Spanien, weite Teile Osteuropas. Dort sind die Frauen zwar emanzipiert, aber es herrschen traditionelle Werte. Karriere und Familie sind schwer zu vereinbaren, außereheliche Geburten sind verpönt.

Japans Bevölkerung wird immer kleiner und immer älter – ein Weg, den auch Deutschland bereits eingeschlagen hat. Welche Konsequenzen erwarten uns?

Wenn die Bevölkerung schrumpft, verwaisen zuerst die Dörfer. Das sehen wir bereits in Ostdeutschland. In Japan werden nun sogar die Vororte der Städte entvölkert. Viele alte Menschen sind allein. Es ist eine ganze Industrie entstanden, die Wohnungen ausräuchert, in denen Menschen unbemerkt verstorben sind. Ein weiteres Problem ist die Staatsverschuldung, wenn immer mehr Rentner einer immer kleineren arbeitenden Bevölkerung gegenüberstehen. Japans Staatsverschuldung beträgt 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ich bin kein Ökonom –aber die demografische Entwicklung legt nahe, dass dieser Schuldenberg weiter wachsen wird. Und Schuldenberge haben die Tendenz, irgendwann zu kollabieren und eine Finanzkrise auszulösen.

Es gibt also gute Gründe, warum eine schrumpfende Bevölkerung uns Sorgen bereiten sollte.

Die gibt es. Aber ich bin der Meinung, dass der Staat die Menschen auf keinen Fall bedrängen darf. Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem die Leute von selbst mehr Kinder wollen.

Ich habe den Eindruck, dass das Blatt sich bereits wendet.

Viele meiner Freunde haben oder wünschen sich mindestens zwei Kinder. Ich habe drei erwachsene Kinder, ich denke also bereits an die nächste Generation. Meine Tochter heiratet im Sommer. Wenn sie Kinder bekommt, wird sie in der Arbeitswelt mehr Unterstützung erfahren als meine Frau in den 1990er-Jahren. Außerdem glaube ich, dass wir des Konsums überdrüssig werden. Vielleicht bewegen wir uns in Richtung einer spirituelleren Welt, in der wir verstehen, wie wichtig Beziehungen sind – insbesondere jene, die wir als Eltern zu unseren Kindern haben. Doch dieser Trend muss sich erst in den demografischen Daten niederschlagen.

Eine weitere Möglichkeit, den Bevölkerungsrückgang zu stoppen, ist Einwanderung.

Bei einer dauerhaft niedrigen Fertilitätsrate ist auch Immigration nur eine vorübergehende Lösung. Wenn Menschen aus einem Land mit hoher Geburtenrate in ein Land mit niedriger Geburtenrate einwandern, gleicht sich die Fertilitätsrate innerhalb von ein oder zwei Generationen an. Darauf deuten sämtliche Daten hin, die uns vorliegen. In den 60er- und 70er-Jahren sind viele Hindus und Sikh aus Indien nach Großbritannien eingewandert. In diesen Gemeinden liegt die Fertilitätsrate heute nicht höher als unter Briten angelsächsischer Abstammung. Die Muslime folgen demselben Trend, wenn auch ein wenig langsamer. Ebenso verhält es sich auch bei den Latinos in den USA.

Könnten gebärfreudige Einwanderer die ethnische Zusammensetzung Europas auf den Kopf stellen?

Das ist natürlich übertrieben. Ich denke nicht, dass unterschiedliche Fertilitätsraten die ethnische Zusammensetzung Europas stark verändern werden. Aber dauerhafte Einwanderung in großem Stil wird die Zusammensetzung sehr wohl verändern. Die europäischen Länder müssen entscheiden, ob sie die wirtschaftlichen Probleme haben wollen, die eine schrumpfende Bevölkerung mit sich bringt, oder die politischen Herausforderungen, die Einwanderung in großem Stil mit sich bringt. Das ist gelebte Demokratie.

Die Angst vor der Fruchtbarkeit der anderen ist nicht neu. Vor dem Ersten Weltkrieg fürchteten die Briten, dass die Deutschen sich ungezügelt vermehren würden. Die Deutschen wiederum hatten Angst vor dem Kindersegen der Russen.

Tatsächlich argumentiere ich, dass diese Nervosität einer der Gründe für den Ausbruch des Krieges war. Jedes Land schaute angstvoll auf die wachsende Bevölkerung seiner östlichen Nachbarn – denn mehr Menschen bedeuten mehr Soldaten. Auch die Franzosen fürchteten, die Deutschen würden sich immer weiter vermehren – dabei wurden die deutschen Familien zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits kleiner.

Warum ist unsere Wahrnehmung solcher demografischen Entwicklungen verzerrt?

Wir glauben, jeder Trend werde ewig anhalten. Wir verbinden die italienische Mama immer noch mit einer großen Kinderschar – dabei sind italienische Familien seit Mitte des 20. Jahrhunderts recht klein. Wir denken ebenfalls, Muslime hätten zwangsläufig große Familien. Dabei liegt die Fertilitätsrate in Ländern wie dem Iran und dem Libanon längst unterhalb des Ersatzniveaus.

Wenn der Trend weltweit zu kleineren Familien geht, müsste die Weltbevölkerung ja bald ihren Höchststand erreichen.

Die Deutsche Bank hat Berechnungen angestellt, die diesen Punkt Mitte des Jahrhunderts bei 8,7 Milliarden Menschen erreicht sehen. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass die Weltbevölkerung im Jahr 2100 noch wachsen wird, aber nur noch sehr langsam. Dann wären wir Ende des Jahrhunderts bei elf Milliarden Menschen. Das Schicksal der Welt wird sich daran entscheiden, wie schnell die hohen Fertilitätsraten in Afrika fallen, vor allem südlich der Sahara. Das ist die große Unbekannte. Ich gehe davon aus, dass die Weltbevölkerung spätestens zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ihren Höchststand erreicht.

Wird die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ein begrenzender Faktor für die Größe der Weltbevölkerung sein?

Diesen Punkt haben wir bereits hinter uns gelassen. Nahrungsmittel werden global gehandelt. Wir können sie immer billiger und effektiver produzieren. Und wir können sie dorthin liefern, wo Hungersnöte drohen. Bis die Weltbevölkerung ihren Höchststand erreicht, haben wir ausreichend Zeit, die landwirtschaftlichen Technologien weiter zu verbessern.

Während der Durchschnittsdeutsche über 40 Jahre alt ist, liegt das mittlere Alter in vielen Ländern Afrikas unter 20 Jahren. Welche Auswirkungen hat das?

Junge Gesellschaften neigen eher zu Gewalt. Natürlich gibt es auch friedliche Länder mit einer jungen Bevölkerung. Aber de facto sind nahezualle alten Gesellschaften friedfertig, und nahezu alle gewaltsamen Konflikte werden in jungen Gesellschaften ausgetragen. Syrien ist ein gutes Beispiel – dort war zu Kriegsbeginn im Jahr 2011 etwa die Hälfte der Bevölkerung 20 Jahre oder jünger. Es war nicht gelungen, diese Menschen erfolgreich in die Wirtschaft zu integrieren. Im Nachbarland, dem Libanon, liegt das Medianalter fast bei 30 Jahren. Trotz des enormen Drucks, der durch die Flüchtlingswelle aus Syrien auf dem Land lastet, ist es einem Bürgerkrieg entgangen. Vielleicht liegt ein entscheidender Unterschied zu Syrien darin, dass der Libanon älter und weiser geworden ist.

Wird sich die Region beruhigen, wenn der demografische Wandel fortschreitet und das Durchschnittsalter steigt?

Ich denke, die ganze Welt wird sich beruhigen. Eine Welt, in der Menschen im Durchschnitt nicht 20, sondern 40 Jahre alt sind, wird unweigerlich ein friedvollerer Ort sein.

Hat ein höhere Durchschnittsalter auch Nachteile?

In älteren Gesellschaften gibt es weniger junge Unternehmer und weniger Menschen, die riskante Investitionen tätigen und so den technologischen Fortschritt vorantreiben. Die Welt könnte also weniger innovativ werden. Andererseits gibt es immer noch viele Menschen ohne Zugang zu Bildung – viele Menschen, deren unternehmerisches Potenzial es zu erschließen gilt.

Sie klingen sehr optimistisch.

Es passieren lauter gute Dinge. Die Menschen leben länger, sie sind gebildeter, sie haben häufiger Zugang zu medizinischer Versorgung und zum Internet. Die Lage ist kein bisschen düster. Es gab
nie eine bessere Welt, um Kinder zu haben.

Das Interview ist in P.M. Ausgabe 05/2019 erschienen.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie in dem Buch „Die Mach der Demografie“ von Paul Morland.

Sarah studierte Modejournalismus und Medienkommunikation in München und Berlin. Auf ihrem Weg zum Schreiben machte sie Halt bei Film und Fernsehen und im Marketing. Ihre Interessen liegen vor allem im Tierschutz, dem Feminismus und in der Kunst – und natürlich im Entdecken von spannenden Geschichten.