(Text: Martin Scheufens)
Vielleicht nur für Minuten bis Stunden, wie 2006: Damals wurde eine Höchstspannungsleitung über der Ems abgeschaltet, um auf dem Fluss ein Kreuz fahrtschiff zu überführen. Daraufhin zerfiel in einer Kettenreaktion Europas Stromsystem in Inseln, zwischen Spanien und Österreich lagen Ortschaften bis zu 120 Minuten im Dunkeln. Vielleicht wird der Blackout aber auch einige Tage dauern, wie 2005, als Münsterländer Strommasten unter Schneemassen zusammenbrachen und die Kleinstadt Ochtrup sechs Tage ohne Strom blieb.
Möglich, aber unwahrscheinlich, dass der Blackout gar eine »nationale Katastrophe« auslöst, wie es das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag 2011 skizzierte. In dessen Szenario fehlt der Strom bis zu zwei Wochen in mehreren Bundesländern. Wasser und Lebensmittelversorgung fallen weitgehend aus, Abwässer verseuchen die Umwelt. An Straßenkreuzungen liegen Opfer von Karambolagen, warten vergeblich auf Rettungsdienste. Senioren müssen aus Heimen evakuiert werden, in Gefängnissen drohen Unruhen. Nach einer Woche kollabiert der Betrieb in den überfüllten Krankenhäusern. Die öffentliche Ordnung droht zusammenzubrechen, Plünderer ziehen durch die dunklen Straßen der Großstädte.
Steigt das Risiko eines Blackouts tatsächlich? Die Frage lenkt den Blick auf unser Stromsystem: ein faszinierendes Gebilde aus Kraftwerken, Umspannwerken, Übertragungs- und Verteilnetzen, das Tag für Tag Häuser und Fabriken mit Energie versorgt. Das Rückgrat unseres hoch technisierten Landes.
Blackout GEFAHR 1: EIN LANGER, Dunkler Winter
Um die Gefahr eines Blackouts zu bestimmen, wurden Deutschlands Übertragungsnetze im September 2022 einem »Stresstest« unterzogen. Die vier Netzbetreiber analysierten, wie sehr eine Lastunterdeckung drohte, also Stunden mit zu wenig Strom. Dazu simulierten sie einen Extremwinter wie im Jahr 2012, mit einer langen Kältewelle im Februar. Das Ergebnis: Im pessimistischsten Szenario, in dem vielerlei Kraftwerke ausfallen, würde über den gesamten Winter bis zu zwölf Stunden der Strom nicht für alle ausreichen.
In ihrem Fazit forderten die Netzbetreiber die Erlaubnis, bei Kälte mehr Strom als üblich durch Freileitungen transportieren zu dürfen. Auch müssten alle Kohlekraftwerke aus der Reserve ans Netz und die Kernkraftwerke weiterlaufen. Die Bundesregierung hat diesen Forderungskatalog weitgehend umgesetzt. Die Gefahr einer Lastunterdeckung sollte daher im Vergleich zur Analyse gesunken sein.
Sollte dennoch im Winter ein Strommangel drohen, sind Netzbetreiber mit einigen Unternehmen einen Deal eingegangen: Im Gegenzug für einen oftmals günstigeren Stromtarif darf der Netzbetreiber deren Betriebe für einige Stunden vom Netz nehmen. Erst wenn selbst diese Option ausgeschöpft ist, könnten Regionen stundenweise und im Wechsel keinen Strom mehr erhalten. Doch das gilt als unwahrscheinlich. Übertragungsnetzbetreiber wie auch die Bundesnetzagentur erwarten, dass Privatleute in ihren Häusern die Stromknappheit wahrscheinlich kaum zu spüren bekommen.
Blackout GEFAHR 2: Sabotage
Man nehme ein paar Drohnen vom Onlinehändler, belade sie mit Alustreifen und lasse sie auf ein Umspannwerk plumpsen. Die Leitungen schließen kurz, Transformatoren verbrutzeln – eine Region liegt im Dunkeln. Man führe das zeitgleich an mehreren Umspannwerken aus, schon schwankt das Stromnetz, bis es in einer Kettenreaktion kollabiert. Fertig ist der Blackout.
Solche Anleitungen für Freizeitterroristen geisterten zuletzt durch die Presse. Zuvor hatten zwei Attacken innerhalb von zwölf Tagen offenbart, wie angreifbar unsere kritische Infrastruktur ist: die Explosionen der NordStream Pipelines in der Ostsee sowie ein Anschlag auf die Bahn, bei dem durchschnittene Kabel den Fernverkehr in Norddeutschland drei Stunden lahmlegten.
Doch Christian Rehtanz, Professor für Energiesysteme an der TU Dortmund, bleibt gelassen. »Trafos verglühen durch eine Attacke mit Hobbydrohnen sicherlich nicht.« Auch habe jedes Element im Stromnetz mindestens eine Redundanz: Bei einem Ausfall übernimmt also automatisch ein anderes Bauteil dessen Aufgabe.
»Mehrere zentrale Knotenpunkte zu zerstören würde möglicherweise regional zu Störungen für ein paar Stunden führen, aber nicht gleich Europa für Tage lahmlegen.« Das Netz sei so ausgelegt, dass sich ein Stromausfall nicht auf weitere Regionen ausbreite. Bei einer massiven Störung zerfällt Europas Netz in Sektoren, die eigenständig funktionieren können. Lokale Schutzmechanismen nehmen empfindliche Bauteile vom Netz, bevor sie beschädigt werden. Ist das ursprüngliche Problem gelöst, lassen sich die Inselnetze meist nach wenigen Stunden wieder zusammenführen.
Natürlich sei ein Blackout nicht auszuschließen, doch dazu brauchte es enorme Expertise, Insiderwissen, Sprengkraft sowie den nötigen Willen zur Zerstörung. Allerdings: Mit Russland steht wieder ein Akteur bereit, dem all dies zuzutrauen ist.
Dabei zeige gerade Russland, wie viel Aufwand es erfordert, ein Stromsystem in die Knie zu zwingen, sagt Rehtanz: In der Ukraine attackieren Militärdrohnen und Marschflugkörper aus Überschallbombern massiv und gezielt Kraftwerke und Umspannwerke. Dennoch fiel erstmals im Oktober die Elektrizität flächendeckend aus.
Auch der Mensch ist eine weitere Schwachstelle
Allerdings hat jedes Sicherheitssystem eine Schwachstelle: den Menschen. Damit sich keine feindlichen Agenten einschleusen, haben die Übertragungsnetzbetreiber das Recht, Backgroundchecks ihrer Angestellten zu machen. Sollte unerwartet ein Agent den Test überstehen und in einer kleinen Netzleitstelle an den Schaltknöpfen sitzen, könnte er einzelnen Regionen das Licht ausknipsen. Wer aber die zentralen Leitstellen der Übertragungsnetze steuert, muss seine Anweisungen mit anderen Leitstellen absprechen – keine Einzelperson kann daher einfach den Strom ausschalten.
Wie groß die Sorge ist, zeigt sich, als der Autor dieser Geschichte eine Netzleitstelle besuchte: Es war verboten, jene Menschen zu fotografieren, die das Netz stabil halten. Ihre Identität soll geheim bleiben, um sie vor Erpressung zu schützen.
Bleibt die Gefahr von Cyberangriffen. Regelmäßig werden Energieversorger gehackt: im Juni das Unternehmen Entega, im Oktober Enercity. Ziel ist meist ein Abgriff und eine anschließende volle Verschlüsselung relevanter Daten, um die Firmen zu erpressen. Doch die Stromversorgung läuft in der Regel weiter, denn die dafür verantwortliche digitale Infrastruktur, etwa in den Netzleitstellen, ist vom klassischen Internet physisch getrennt. Wer sie attackieren will, müsste beispielsweise in die Räumlichkeiten der Energieversorger eindringen, um vor Ort Schadsoftware einzuspeisen.
Dennoch gibt es viele Schwachstellen, etwa durch unzureichend geschützte Fernwartungen. »Angreifer können einen Stromausfall herbeiführen, lokal begrenzt, für einen kurzen Zeitraum«, sagt der IT-Experte Manuel Atug, mit anderen Sicherheitsfachleuten Gründer der unabhängigen »Arbeitsgruppe Kritische Infrastrukturen«. Ein Blackout hingegen sei sehr unwahrscheinlich. »Panik ist definitiv nicht angebracht. Kritische Infrastrukturen so aus der Ferne zu hacken, dass die Versorgung lang anhaltend und überregional ausfällt, ist extrem schwer – egal ob für Russland oder für die USA.«
Auch Atug zieht eine Parallele zur Ukraine: Dort verursachte im Dezember 2015 ein Cyberangriff einen mehrstündigen Stromausfall in mehr als 200 000 Haushalten. Doch der eigentliche Versuch, das Land großflächiger und langanhaltender zu stören, scheiterte.
Ganz verhindern ließen sich solche Attacken aber nicht, auch steige die Gefahr aufgrund der zunehmenden und oftmals schlecht durchgeführten Digitalisierung. »Wir müssen uns darauf konzentrieren, die Auswirkungen einer Attacke zu minimieren, etwa durch Trupps, die schnell Schäden reparieren«, sagt Sicherheitsexperte Manuel Atug. »Merken die Menschen nur eine kurze Störung, lohnt sich für die Angreifer der Aufwand einer Attacke schlicht nicht.«
Der vollständige Artikel ist als Titelgeschichte der Ausgabe 01/2023 von P.M. erschienen und beschäftigt sich in drei weiteren Szenarien mit der Anfälligkeit unseres Stromnetzes.