(Interview: Angelika Franz)
Frau Azoulay, wie sind die Arolsen Archives entstanden?
Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurden Millionen von Menschen verschleppt und ermordet. Für die Suche nach Vermissten und die Klärung von Schicksalen entstand in Arolsen das umfangreichste Archiv über die Opfer des Nationalsozialismus. Die Arolsen Archives sind ein »Denkmal aus Papier«, um eine Formulierung des Überlebenden Thomas Buergenthal aufzugreifen. Anfang 1946 siedelte sich das »Central Tracing Office« in Arolsen an. Für diesen Standort sprachen verschiedene Gründe: Arolsen lag in der geografischen Mitte der vier Besatzungszonen und war damit für alle Beteiligten gut zu erreichen. Zugleich bot die Stadt, die im Krieg kaum zerstört worden war, eine intakte Infrastruktur. Das war notwendig, um die große Suche nach Spuren der Vermissten zu starten.
Woher stammen die Dokumente?
Die Sammlung der Arolsen Archives umfasst zum einen Dokumente der NS-Bürokratie aus Konzentrationslagern, Ghettos und Haftanstalten. Dazu gehören zum Beispiel Häftlingspersonalkarten und ausgefüllte Fragebögen aus der KZ-Verwaltung. Umfangreich ist zudem die Dokumentation über viele Millionen Zwangsarbeiter, die vom NS-System systematisch ausgebeutet wurden, um die landwirtschaftliche Versorgung und Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten. Zum Bestand des Archivs gehören außerdem die Akten der Alliierten über die Versorgung der Displaced Persons sowie die Migration nach 1945.
Wer kann die Angebote der Arolsen Archives nutzen?
Unser Archiv und unsere Angebote stehen allen offen. Wir haben intensiv daran gearbeitet, unsere Dokumente so einfach wie möglich zugänglich zu machen. Heute stehen mehr als 27 Millionen Dokumente in unserem Onlinearchiv zur Verfügung. Das ist wichtig für alle Familien, die nach Informationen über Angehörige suchen. Die Sammlung hat zudem großen Wert für die Gesellschaft, da immer weniger Zeitzeugen berichten können. 2020 haben wir aus aller Welt Anfragen zu rund 23 000 Menschen erhalten. Wir suchen für Überlebende sowie Angehörige von NS-Opfern nach Spuren, die dabei helfen, die Familiengeschichte einzuordnen und zu verstehen. Wichtiger denn je sind die Angebote aber auch für Forschung und Bildung, um das Wissen über den Holocaust, Konzentrationslager, Zwangsarbeit und die Folgen der Nazi-Verbrechen in die heutige Gesellschaft zu bringen.
Womit können Freiwillige die Arbeit unterstützen?
Im April 2020 haben wir das Crowdsourcing-Projekt »#everynamecounts« als internationale Initiative gestartet. Viele Zehntausend Freiwillige helfen uns dabei, unser Archiv in ein digitales Denkmal zu verwandeln. Sie übertragen auf einer Website Namen, Geburtsorte und andere Informationen von den Dokumenten und erfassen die Daten digital.
Wie kann man selbst dabei sein?
Jede und jeder kann ganz einfach mitmachen. Man braucht dafür kein Vorwissen oder besondere Ressourcen. Und auch den Zeitaufwand bestimmt man selbst. Man braucht nur eine Internetverbindung, einen Computer oder ein Tablet und den Link »enc.arolsen-archives.org«. Wir sind sehr dankbar für alle, die uns unterstützen – und mit ihrer Arbeit ein Zeichen setzen.
Der Artikel ist in der Ausgabe 06/2022 von P.M. Schneller Schlau erschienen.