(Interview: Angelika Franz)
Frau Hallett, was waren das für Knochen, die Sie in der Contrebandiers-Höhle gefunden haben?
Unter all den Tierknochen stachen besonders Rippen von Boviden hervor, also von Hornträgern. Sie waren zu spatelförmigen Werkzeugen umgearbeitet worden. Um welche Art von Boviden es sich handelt, wissen wir noch nicht. Bislang kann ich nur sagen, dass sie groß waren. Wenn wir uns die Wirbelknochen der Fauna anschauen, die in der Contrebandiers-Höhle gefunden wurden, dann sind die wahrscheinlichsten Kandidaten entweder die Nordafrikanische Kuhantilope, also Alcelaphus buselaphus, oder der Auerochse, Bos primigenius.
Und wofür wurden diese Werkzeuge gebraucht?
Vermutlich wurden sie zur Herstellung von Kleidung verwendet. Die Werkzeuge könnten natürlich auch der Lederbearbeitung zu anderen Zwecken gedient haben, beispielsweise zur Herstellung von Planen oder Beuteln. Aber genetische Untersuchungen zu Kleiderläusen legen nahe, dass Kleidung erstmals vor rund 170 000 Jahren in Afrika getragen wurde.
Was waren das für Menschen, die diese Höhle bewohnten?
Die Contrebandiers-Höhle liegt etwa 250 Meter von der heutigen Atlantikküste entfernt, nahe der marokkanischen Stadt Témara. Die untersten Schichten der Höhle enthalten Strandsand, weil der Meeresspiegel vor rund 125 000 Jahren auf dem Niveau lag. Unmittelbar über diesen Schichten gibt es Feuerspuren von menschlichen Aktivitäten, Tierknochen, Meerestiere und Steinwerkzeuge. Die Höhle war also vor 120 000 bis etwa 90 000 Jahren von frühen Menschen bewohnt.
Was interessiert Sie daran?
Die Contrebandiers-Höhle ist so spannend, weil wir dort gut erhaltene versteinerte Knochen von Tieren und Menschen ebenso wie Steinwerkzeuge haben – und das aus einer Zeit, die in der Entwicklung des Menschen ganz entscheidend war. In Afrika tauchen neue Werkzeugformen und neue Verhaltensweisen auf, wie zum Beispiel das Tragen von Schmuckelementen, und die Funde aus der Contrebandiers-Höhle fallen genau in diese Zeit.
Ein Werkzeug besteht aus dem Zahn eines Wals. Was hat es mit dem auf sich?
Wale kamen bislang auf Fundstätten aus dem Pleistozän in Nordafrika noch gar nicht vor. Als ich die Knochen aus der Höhle untersuchte, blieb ein Zahn übrig, der keinem der Zähne von Säugetieren, Fischen oder Reptilien ähnlich sah, die ich kannte. Ich vermutete schon, dass es ein Walzahn sein könnte. Meeresbiologen und Archäologen meinten dann, es sei wahrscheinlich der Zahn eines Pottwals. Er wurde dazu benutzt, Klingen von einem Steinkern abzuspalten; er wurde also aktiv von Menschen als Werkzeug verwendet.
Welche Bedeutung hat der Fundkomplex?
Die Funde zeigen uns, wie frühe Menschen kleinere Fleischfresser – Sandfüchse, Goldschakale und Wildkatzen – häuteten, um deren Fell zu gewinnen, und wie sie Leder und Fell dann mit Knochenwerkzeugen bearbeiteten. Daraus lernen wir, dass die Menschen im Pleistozän in Nordafrika sehr innovativ und einfallsreich waren. Das wussten wir zwar schon, aber unsere Studie fügt der langen Liste von menschlichen Aktivitäten, die in der Archäologie Afrikas vor etwa 100 000 Jahren erstmals greifbar werden, noch eine weitere hinzu.
Das Interview ist in der Ausgabe 09/2022 von P.M. Schneller Schlau erschienen.