Der Atomreaktor ist nicht nur heute stark umstritten, sondern hat auch eine dunkle Entstehungsgeschichte. Was als harmloses Wissenschaftsprojekt begann, wurde schnell politisch und führte zur Entwicklung der ersten Atombombe, die in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde. Doch wo und wie entstand der erste Atomreaktor?
Im Dezember 1938 gelang es Otto Hahn und Fritz Straßmann erstmals, einen Atomkern zu spalten, indem sie Uran bestrahlten. Seitdem spekulierte man darauf, dass man dies auch als Kettenreaktion umsetzen könnte: Die bei der Spaltung entstehenden Neutronen könnten weitere Urankerne spalten, die wiederum neue Neutronen freisetzen. So könnte entweder eine Menge Energie erzeugt werden (wie bei heutigen Atomkraftwerken) oder eine enorm große Bombe gebaut werden.
Von der Uranspaltung zum Atomreaktor und zur Atombombe
Am 2. Dezember 1942, um 15:25 Uhr, entfernte ein Mitarbeiter den letzten Cadmiumstab. Dann lauschte das Team gespannt auf das Ticken des Neutronenzählers. Und tatsächlich: Das Gerät begann zu pochen, immer schneller, bis sich die Frequenz schließlich zu einem einzigen langen Ton vereinte – die Kettenreaktion war im Gange. Der weltweit erste Atomreaktor lieferte Energie, und das mitten in Chicago, im Keller eines Sportstadions.
Dort, im Herzen der amerikanischen Großstadt, begann das Atomzeitalter. Enrico Fermi, ein Exilitaliener und Physiker, berichtete später, dass er einen „groben Haufen aus schwarzen Ziegeln und Holzbalken“ unter dem Stagg Field errichtet habe. Das Stagg Field gehörte der Universität Chicago, und obwohl es Rennbahnen, Baseballfelder und Tennisplätze beherbergte, wurde es kaum noch genutzt. Die Stadtverwaltung erlaubte Fermi, seinen Reaktor in einer unterirdischen Squashhalle zu errichten, nachdem er versichert hatte, dass er bei diesem Experiment alles unter Kontrolle habe.
Keine Kühlanlage oder Abschirmung gegen radioaktive Strahlen
Innerhalb weniger Wochen baut Fermi mit seinem Team dort den kleinen Meiler aus Uranmetall und Grafit auf: Die „Chicago Pile“, wie die Anlage genannt wurde, war gerade einmal sechs Meter hoch und knapp zwei Meter breit. Trotz aller Beteuerungen von Fermi war sein Reaktor aus heutiger Sicht nicht gut abgesichert. So fehlten zum Beispiel eine Kühlanlage und eine Abschirmung gegen radioaktive Strahlen. Für Notfälle standen während des Versuchs lediglich vier Männer bereit: Einer trug eine Axt, mit der er ein Seil durchschlagen sollte, falls das Experiment außer Kontrolle geraten sollte. An dem Seil hing ein großer Cadmiumstab, der in den Reaktor zurückgeschoben werden konnte, um die Kettenreaktion zu unterbrechen. Ein dreiköpfiges Team beobachtete den Ablauf außerdem von einem eigens errichteten Podest über dem Reaktor, und diese Männer sollten notfalls eine Cadmiumsalzlösung über die Anlage des Atomreaktors gießen.
Fermis Versuch gelang jedoch ohne Zwischenfälle: Bei seinem ersten Testlauf lieferte die Chicago Pile eine Leistung von einem halben Watt – gerade genug, um eine Glühbirne kurz aufzuleuchten zu lassen. Fermi war dennoch euphorisch, denn nicht der elektrische Strom interessierte ihn. Er wollte mit seinem Experiment beweisen, dass über diesen Weg radioaktives Material für den Bau einer Atombombe gewonnen werden konnte.
Atombombe: Fermi wollte den Deutschen zuvorkommen
Wie viele Wissenschaftler seiner Zeit ging Fermi davon aus, dass die Nationalsozialisten kurz davor standen, ein solches Waffensystem einzusetzen – eine Fehleinschätzung, wie sich später herausstellte. Dennoch schrieben der Physiker Léo Szilárd zusammen mit Albert Einstein 1939 einen Brief an den US-Präsidenten Franklin Roosevelt, um ihn vor der Gefahr einer deutschen Atombombe zu warnen. Dadurch wurde das Manhattan-Projekt ins Leben gerufen, an dem auch weitere bekannte Physiker wie J. Robert Oppenheimer beteiligt waren. So wollte man dem Nazi-Regime zuvorkommen.
„Die Physiker haben erfahren, was Sünde ist, und dieses Wissen wird sie nie mehr ganz verlassen.“
– Oppenheimer
Viele Kollegen von Fermi waren jedoch deutlich pessimistischer als der Nobelpreisträger. Der Atomphysiker Leó Szilárd zum Beispiel schauderte nach dem erfolgreichen Start der Chicago Pile: Dieser 2. Dezember werde als „schwarzer Tag in die Geschichte der Menschheit eingehen“.