Ende des 19. Jahrhunderts war das Wettrennen in vollem Gange: Französische und englische Archäologen bargen immer mehr Kunstschätze aus dem Orient, die der Pariser Louvre und das British Museum in London bereichern sollten. Dem wollte Kaiser Wilhelm II., der ein Faible für den Nahen Osten hatte, nicht nachstehen. Eine eigene vorderasiatische Sammlung musste her.
Um eine prestigeträchtige Ausgrabungsstätte zu finden, entsandten die Berliner Königlichen Museen 1897 Robert Koldewey ins Zweistromland, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Er war eigentlich Architekt und Bauforscher, sprach aber fließend Arabisch und hatte bereits an Expeditionen in Griechenland, Italien und auch nach Mesopotamien teilgenommen. „Mir ist im Ganzen eine alte Mauer lieber als ein blühender Mandelbaum“, erklärte er einmal seine Begeisterung für die Archäologie.
Babylon: sagenhafter Königssitz und biblischer Sündenpfuhl
Koldewey erkundete verschiedene antike Stätte wie Uruk und Assur, doch kein Ort faszinierte ihn so sehr wie ein karges Gelände 90 Kilometer südwestlich von Bagdad. Hier fand er in der Erde einige Reste von blau glasierten Ziegelsteinen – und vermutete sofort: Das musste Babylon sein, die größte Stadt der Antike, ein sagenhafter Königssitz und biblischer Sündenpfuhl.
Zurück in Berlin, überzeugte er den Kaiser und die neu gegründete Deutsche Orient-Gesellschaft davon, eine Expedition zu entsenden. „Ich könnte ja auch sowieso aus dem Häuschen sein vor Vergnügen wegen dieser Ausgrabung, denn wenn ich mir vorstelle, dass mir einer vor sechzehn Jahren gesagt hätte, ich solle Babylon ausgraben, so würde ich ihn für verrückt gehalten haben“, schrieb Koldewey in einem Brief.
Die Befestigung war über sechzehn Meter dick – so was habe ich bisher noch nicht ausgegraben!
Robert Koldewey, Ausgräber Babylons
Am 22. März 1899 kam er in Babylon an, und damit begann eines der ehrgeizigsten archäologischen Projekte der Welt. Koldeweys Team bestand aus einer Handvoll deutscher Architekten und rund 200 Einheimischen, die sich bis zu 20 Meter tief in die Erde gruben, um Grundmauern freizulegen. Koldewey ging es in erster Linie nicht um einzelne Trophäen aus der einstigen Metropole, sondern ums Ganze. Er wollte ihre Struktur verstehen, die Lage und Größe der Paläste, Tempel, Tore, Wälle ermessen. Nachdem er die erste Mauer freigelegt hatte, notierte er euphorisch: „Die Befestigung war über sechzehn Meter dick – so was habe ich bisher noch nicht ausgegraben!“
Abertausende Ziegelsteine in glänzendem Blau, teils mit Tierreliefs, bargen Koldewey und sein Team. Jeder einzelne wurde nummeriert, inventarisiert und dann, sorgsam eingepackt, in Kisten nach Berlin transportiert.
Dank Koldeweys akribischer Arbeit können später wichtige Bauwerke rekonstruiert werden
Die Ausgrabungen waren eine Strapaze, und Koldewey verlangte von seinen Mitarbeitern Höchstleistungen. Wie auch von sich selbst. Bis in die Nacht hinein war er im Bibliotheksraum, „ein Bein auf dem Tisch, das andere in einem Wassereimer, um nicht einzuschlafen“, notierte einer seiner Kollegen. Tagsüber raste er mit dem Motorrad über das Gelände, in weißem Anzug und mit einem „schirmlosen Reisemützchen aus grauem Baumwollstoff“ auf dem Kopf. 1917, im Ersten Weltkrieg, mussten die Grabungen abgebrochen werden.
Koldeweys großer Traum, die babylonischen Fassaden in Berlin wiederaufgebaut zu sehen, erfüllte sich nicht. Er starb 1925. Aber dank seiner genauen Arbeit konnten Teile des um 600 v. Chr. gebauten Ischtar-Tors und der Prozessionsstraße tatsächlich rekonstruiert und 1930 präsentiert werden.
Autor: Manuel Opitz
Der Artikel ist in der Ausgabe 02/2021 von P.M. History erschienen.