P.M.: Herr Stöcker, lässt sich Populismus genau definieren?
STÖCKER: Ja, es gibt inzwischen einen Konsens darüber, wie man Populismus am saubersten dekliniert: Der Populist ist derjenige, der so tut, als vertrete er eine schweigende Mehrheit. Er impli- ziert, den Großteil des Volkes zu vertreten, von ihm können sich alle vertreten fühlen. Es ist aber nur eine Behauptung, die mit der Realität nichts gemein hat. Bei extremen Parteien ist es der Klassiker. Sie verkaufen sich als Vertreter dieser schweigenden Mehrheit. Zum Narrativ der fiktiven schweigenden Mehrheit gesellt sich grundsätzlich eine unzulässige Vereinfachung der Sachverhalte.
P.M.: Wie zeigt sich das?
STÖCKER: In einer liberalen, funktionierenden Demokratie wie unserer muss Populismus behaupten, dass die Mehrheit sich ausgenutzt, gegängelt, veräppelt fühlt. Dabei sind es hierzulande immer noch knapp 80 Prozent aller deutschen Wahlberechtigten, die nicht die AfD wählen. Auch das Wahlergebnis in Thüringen und Sachsen ist nicht so dramatisch, wie es auf den ersten Blick aussieht: Es handelt sich um Bundesländer mit geringer Population und sehr spezifischer Demografie. Die Leute dort haben AfD gewählt, weil sie mit der Regierung unzufrieden sind. Und weil sie sich vor einem Anstieg der Migration und Kriminalität fürchten, der sie jedoch gar nicht betrifft. So manifestiert sich das paradoxe Ergebnis von rechtem Populismus. Dazu kommt, dass ausgerechnet diese Wähler am stärksten unter der AfD leiden würden, käme sie an die Macht. Die tiefe Realitätsverleugnung funktioniert in diesen Bundesländern erschreckend gut. Die Bevölkerung ist älter, männlicher und hat weniger Bildungsmöglichkeiten.
P.M.: In den USA tritt Donald Trump im November zum dritten Mal bei den Präsidentschaftswahlen an. Was macht seinen Erfolg aus?
STÖCKER: Trump gelingt es, sich als Underdog zu präsentieren, obwohl er so reich und mächtig ist. Er suggeriert: »Ich spreche für euch alle!« Darüber hinaus beherrscht Trump das zweite, zentrale Element des Populismus: die Darstellung der Abgrenzung von den vermeintlich anderen, den Fremden, denen, die mit den sogenannten Eliten unter einer Decke stecken.
P.M.: Wie lässt sich Abgrenzung erreichen?
STÖCKER: In Deutschland gibt es zum Beispiel seit langem eine Debatte über Langzeitarbeitslose, die sehr gut taugt, um sich populistisch an ihr abzuarbeiten. Die Debatte erzeugt Emotionen, das Gefühl: »Ihr seid die Faulen, die mir auf der Tasche liegen! Ich dagegen bezahle Steuern, Sozialabgaben, werde ausgenutzt, vom Staat ausgebeutet!« Diese Mischung aus Wut plus Neid erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl. Eine Gruppenzugehörigkeit zu einer sogenannten In-Group, die sich gegen eine Out-Group abgrenzt. Das funktioniert in unterschiedlichsten Bereichen. Radfahrer gegen Autofahrer. Raucher gegen Nichtraucher. Mütter gegen Nicht-Mütter. Es ist sehr einfach, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie zu einer bestimmten sozialen Gruppe gehören, das kann man in zahl- reichen Experimenten nachweisen.
P.M.: Welche psychologischen Mechanismen werden da bedient?
STÖCKER: Zum einen ist das die belohnende Wirkung eines sozialen, wirtschaftlichen Abwärts-Vergleichs. Wenn ich mich mit jemandem vergleichen kann und mich dabei überlegen fühle, erzeugt das ein schnelles Belohnungsgefühl. Es lässt sich neuropsychologisch nachweisen und ist die billigste Art, sich selbst einen Dopaminkick zu verschaffen. Sich über jemanden erheben zu können, nach dem Motto: Also mein Nachbar, der hat aber ein hässliches Auto. Das Ganze funktioniert aber genauso in die entgegengesetzte Richtung. Ein sozialer Aufwärts-Vergleich erzeugt einen mit Schmerz vergleichbaren Effekt. Neid ist ein neurophysiologisch nachweisbar unangenehmes Gefühl. Der Populismus bespielt gleichzeitig beide Instinkte. Der Blick auf die Eliten, die da oben, von denen man sich gegängelt, ausgenutzt, missachtet fühlt. Und jener auf die anderen, die Fremden, die Faulen, auf die man herabblicken kann.
P.M.: Dann ist der Schlüssel die Gruppenidentität?
STÖCKER: Genau, in Gruppen kann die Fiktion einer gemeinsamen Unterdrückung leichter erzeugt werden, auch weil man ja mit seinen Belangen offenbar nicht alleine ist. In Diktaturen ist das schon immer so gemacht worden. Letztlich funktioniert das über die Erzeugung einer Stammesidentität. Nehmen wir wieder Trump, der als mächtigster Mann der Welt so tat, als wäre er ein Underdog, einer aus dem Volk. Er spielt mit genau dieser Stammesidentität. Dieser Move, das Abgrenzen gegen andere, die eigene Stilisierung zum Opfer, evoziert die dunkelsten menschlichen Ressentiments und macht sie salonfähig. Es ist auch das Kernelement der Rechtsradikalen, die Ablehnung und Abwertung des anderen, des Fremden. Früher waren es die Juden, heute sind es andere, vermeintlich nicht deutsche Bevölkerungsgruppen. Das ist im Kern eine irrationale Position. Auch wenn wir fast alle im Laufe unseres Aufwachsens rassistische Gedanken erworben haben, so ist Rassismus im Kern irrational. Neh- men wir als Beispiel die Idee von der sogenannten Remigration, also der Verdrängung oder Abschiebung von Menschen mit Migrationshintergrund: Wenn das gelingen würde, was gewisse Rechtsradikale sich wünschen, würde der deutsche Staat komplett zusammenbrechen. Etwa ein Viertel der Menschen in diesem Land hat einen Migrations- hintergrund. Selbst von den Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, etwa aus Syrien oder der Ukraine, geht die große Mehrheit einer Arbeit nach, überwiegend als Fachkräfte. In Deutschland arbeiten zum Beispiel 5800 Ärztinnen und Ärzte aus Syrien.
P.M.: Der Populismus erfindet also eine parallele Wahrheit?
STÖCKER: Desinformation ist ein typisches Nebenprodukt: Wer den politischen Gegner hasst und sich mit den Eigenen stark identifiziert, teilt auch höchst fragwürdige Informationen aus der eigenen Blase in sozialen Medien. Durch Verkürzung und Vereinfachung der Sachverhalte entsteht dazu eine Art von Alarmismus, Erzählungen, die nicht den Tatsachen entsprechen. In den USA etwa haben die Republikaner und die Öl- und Gasbranche dafür gesorgt, dass nur 22 Prozent der Republikaner-Wähler glauben, dass die Aufheizung des Planeten vom Menschen verursacht wird. Auch in Deutschland haben wir 10 bis 15 Prozent Klimawandelleugner. Es gibt immer ein paar Leute, die man dann nicht mehr zurückholen kann.
P.M.: Warum hält sich so viel Desinformation in einer vermeintlich immer aufgeklärteren Gesellschaft?
STÖCKER: Ein Faktor ist die Stammesidentität. Wie die funktioniert, lässt sich am besten an den USA erklären, wo die Gesellschaft durch das komplett konträre Zwei-Parteien System noch viel polarisierter ist als unsere. Im historischen Verlauf ist dort die Neigung, eine bestimmte Partei zu unterstützen, fast zur religiösen Überzeugung geworden. Dieses Stammesdenken hat die Gesellschaft tief gespalten. Man spricht von Motivated Reasoning (etwa: zielgerichtetes Denken, die Red.), wenn Informationen je nach Stammeszugehörigkeit verarbeitet werden. Eines der extremsten Narrative war, dass demokratische Politiker Kindern in Kellern für Experimente Blut abzapfen. Das ist eine Kernbehauptung der QAnon-Verschwörungserzählung. Es gibt jede Menge Leute in den USA, die das glauben. Um solche Geschichten zu verbreiten, braucht es eine Menge Stammesidentität. Den anderen so weit abzulehnen, dass man selbst das Weiterleiten von Desinformation als Zeichen von Stammesidentität und Solidarität für gerechtfertigt hält. Doch auch hierzulande existieren in der Politik Populismus, toxische Rhetorik, Verallgemeinerungen, Vereinfachungen und bislang im politischen Diskurs nie da gewesene Aggressionen. Ein gutes Beispiel ist die beliebte von der AfD in die Welt gesetzte Phrase der »Merkel-Diktatur«.
P.M.: Wann lässt sich Populismus in der Weltgeschichte erstmals verorten?
STÖCKER: Populismus im engeren Sinn gibt es primär in Demokratien. Aber auch im alten Rom gab es schon Populisten, die Volkstribune. In einer feudalistischen, mittelalterlichen Gesellschaft gab es dagegen wohl keine Populisten, weil das lebensgefährlich gewesen wäre. Die Machtverhältnisse der Ständegesellschaft waren geregelt, bis zu ihrer sukzessiven Abschaffung. Historisch gesehen sollte man den Begriff Populismus nicht überdehnen, alleine weil er in der Geschichte Europas durchaus positive Aspekte hat. In überfälligen, gesellschaftlichen Umbrüchen, etwa in der Französischen Revolution 1789, als das Ancien Regime gestürzt wurde, weil die Mehrheit aus dem Volk gegen den korrupten französischen Adel aufbegehrte. Doch das war damals keine Fiktion von Unterdrückung, sondern es war echte Unterdrückung. Als Gegenbewegung zum Feudalismus war Populismus durchaus ein tragfähiges Konzept.
P.M.: Ist Populismus demnach in seinen Wurzeln etwas Positives?
STÖCKER: Populismus beinhaltet die Erzählung vom unterdrückten Volk. Ein weiteres positives Beispiel sind die DDR-Bürger, die 1989 auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ riefen. Das waren wahrhaftige, notwenige historische Revolutionen, deren Kampfbegriffe sich auch der Populismus von heute bedient, weil der Sieg der Unterdrückten gegen einen autoritären Staat ja positiv besetzt ist. Populisten wollen genau diese Assoziation. Nehmen wir die Querdenker, Impfgegner und so weiter: Konnten sie je für sich behaupten, in der Mehrheit zu sein? Das waren rein populistische Behauptungen, der Missbrauch historischer Worte wie: »Wir sind das Volk.« Derartige Vergleichsmöglichkeiten aus Geschichtsbüchern erzeugen entsprechende Trugschlüsse. Aber wir leben nun mal nicht in einer Diktatur. Wir haben auch keinen permanenten Missstand. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die meisten Menschen in diesem Land gehören zu den reichsten Menschen, die je auf der Erde gelebt haben.
P.M.: Worum geht es Populisten generell?
STÖCKER: Es geht um Macht, um Geld, auch Korruption spielt eine Rolle. Populisten bieten keine Lösungen. Ihre politische Kernkompetenz besteht darin, Leute dazu zu bringen, sie zu wählen. Sie stoßen weder politische Prozesse an, noch sind sie an Lösungen interessiert. Es gibt in Deutschland auch jenseits der AfD Politiker, die populistische Elemente in Reden einbauen, auch wenn man ihnen deshalb nicht unterstellen kann, sie wollten unser Land in den Abgrund schicken. Wenn ein Politiker sagt »Kreuzberg ist nicht Deutschland, Gillamoos ist Deutschland«, dann hat das eine populistische Komponente. Unter anderem haben sich Populisten die Phrase einverleibt: »Das wird man wohl noch sagen dürfen!« Dort schwingt unbewusst die Botschaft mit: Achtung, Bürger, ihr werdet unterdrückt! Deswegen müsst Ihr keine Gendersternchen machen! Also ich fühle mich jetzt nicht durch Gendersternchen unterdrückt.
P.M.: In Ihrem aktuellen Buch schreiben sie viel über Populisten, die mit Unwahrheiten die Folgen des Klimawandels leugnen.
STÖCKER: Es gibt Leute, die kann man für Geld anheuern, diese Art von Lügen zu verbreiten, um Zweifel an wissenschaftlichen Fakten zu säen. Nehmen wir die Waldbrände letztes Jahr in Kanada. Der Himmel war sepiafarben – ein Blade-Runner Himmel. Da sagte Steve Milloy, ein Anti-Wissenschafts-Propagandist im Dienste der Tabak- und Ölbranche im Fernsehen, bei Fox News: Was wir da sehen, wäre in China noch »saubere Luft«. Wir sollen uns mal alle nicht so haben. Der Mann wird unter anderem von der Ölindustrie bezahlt, um zu kolportieren, das alles wäre nicht so schlimm.
P.M.: Warum sind Social Media der perfekte Nährboden für Populismus?
STÖCKER: Weil es dort niemanden gibt, der kritische Fragen stellt. Wenn Tino Chrupalla von der AfD bei Markus Lanz zerlegt wird, finden Social Media-Beauftragte der AfD trotzdem die drei kleinen Highlights in seiner Antwort. Oder wenn Alice Weidel ihre Reden im Bundestag hält. Sie wimmeln von populistischen Details, sind unterhaltsam, klingen wie die finale einfache Offenbarung der Wahrheit. Die AfD steckt viel Kraft und Geld in Social Media, viel mehr als andere Parteien. Die können sich dort ungestört austoben, werden nicht mit Nachfragen des klassischen Journalismus behelligt. Der riesige Erfolg auf Social Media entsteht durch Algorithmen, die Dinge mit besonders vielen Interaktionen nach oben spülen. Man nennt das Outrage-optimierte Kommunikation.
P.M.: Also auf Empörung ausgerichtete Kommunikation.
STÖCKER: Sie passt perfekt in das System, denn Empörung skaliert in Social Media. Es gibt jede Menge wis- senschaftliche Studien, die nachweisen, dass Desinformation sich schneller verbreitet als Fak- ten. Die Desinformation hat gegenüber den Fakten den Vorteil, dass sie sich nicht an faktische Au- thentizität halten muss und deswegen so empö- rend sein kann, wie es nur geht. Deswegen sind Trump und Plattformen wie X das perfekte Match. Trump ist die personifizierte, Outrage-optimierte Dauerempörung, das perfekte Beispiel für popu- listische Empörungs-Kommunikation.
CHRISTIAN STÖCKER ist Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und Experte für Kognitionspsychologie, die sich damit befasst, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, Informationen verarbeiten und speichern. Populismus und gezielte Desinformation gehören zu Stöckers zentralen Forschungsfeldern. In seinem Buch «Männer, die die Welt verbrennen« schreibt er darüber, wie ultrareiche Profiteure der fossilen Brennstoff-Industrie seit Jahrzehnten Falschinformationen verbreiten, um Zweifel am Klimawandel zu säen.
Interview: Andrea Müller