Unter der Oberfläche Nordamerikas geht etwas vor sich, das selbst die Wissenschaftler verblüfft hat. Während der Großteil der Welt auf politische Schlagzeilen und wirtschaftliche Themen blickt, hat ein amerikanisch-chinesisches Forscherteam etwas entdeckt, das unser Verständnis von Geologie und der Stabilität der Erde maßgeblich verändert: Große Mengen Material tropfen tief in den Erdmantel. Was passiert dort genau und warum ist diese Entdeckung so bedeutend? Die Antwort liegt in den tiefsten Schichten des amerikanischen Kontinents – etwa 200 Kilometer unter der Oberfläche – im sogenannten Kraton.
Was ist ein Kraton?
Ein Kraton ist eine dicke, stabile Gesteinswurzel, die seit Milliarden von Jahren den Kontinent wie ein Anker stabilisiert. Diese Kratone, die bis zu 250 Kilometer in den Erdmantel hineinreichen, galten bisher als unveränderlich und sehr stabil. Wissenschaftler dachten, sie seien unerschütterlich, da sie den gesamten Kontinent stützen. Doch eine bahnbrechende Entdeckung hat diese Annahme infrage gestellt.
Der tropfende Kraton – eine unerwartete Entdeckung
Ein Forscherteam unter der Leitung von Junlin Hua von der Universität für Wissenschaft und Technologie in Hefei (China) hat mithilfe von seismischen Daten des EarthScope-Projekts etwas Unerhörtes entdeckt: Der Kraton unter Nordamerika ist alles andere als stabil. Stattdessen „tropft“ er regelrecht und verliert dabei Material, das in den tieferen Erdmantel sinkt.
Um diese Entdeckung zu verstehen, kann man sich das Bild eines Eisbergs vorstellen, bei dem nur die Spitze sichtbar ist, während die meiste Masse unter der Wasseroberfläche verborgen bleibt. So ähnlich verhält es sich mit den Kratonen. Diese massiven Gesteinspakete, die als „Wurzeln“ eines Kontinents betrachtet werden, sind weit mehr als wir dachten. Sie sind dynamischer und weniger stabil als angenommen.
Seismische Untersuchungen – der Ultraschall der Erde
Die Forscher verwendeten seismische Daten, um den Kraton zu untersuchen. Seismische Wellen, die durch Erdbeben entstehen, wurden wie bei einem medizinischen CT-Scan genutzt, um die tieferen Schichten der Erde zu analysieren. Die Ergebnisse sind erschütternd: Unter dem amerikanischen Mittleren Westen fanden sie „tropfende“ Strukturen – riesige Materialansammlungen, die von der Unterseite des Kontinents herabhängen. Diese tropfenartigen Gesteinsstrukturen erinnern an den Tropfen von zähflüssigem Honig, der langsam von einem Löffel fällt. Nur dass es sich hier um geschmolzenes Gestein handelt, das sich von der Kratonunterseite löst und in den Erdmantel sinkt.
Diese „Tropfen“ sind gigantisch – sie haben einen Durchmesser von bis zu 1.500 Kilometern und reichen bis in eine Tiefe von etwa 500 Kilometern. Aber warum passiert das?
Was ist der Grund für dieses tropfende Gestein?
Das Geheimnis liegt in einem uralten Relikt einer längst verschwundenen Meeresplatte – der Farallon-Platte. Diese ozeanische Platte tauchte vor Millionen Jahren unter die Westküste Nordamerikas ab (ein Prozess, den Geologen als „Subduktion“ bezeichnen). Diese abgetauchte Platte sinkt immer noch tief in den Erdmantel und verursacht Strömungen, die das Gestein des Kratons abtragen.
Diese Strömungen verlaufen entlang der Unterseite des Kratons und tragen dabei Material ab. Gleichzeitig steigen flüchtige Substanzen von der Farallon-Platte auf, die das Gestein an der Unterseite des Kratons chemisch aufweichen und schwächen. Dies macht das Gestein anfälliger für Erosion, was die Tropfenbildung noch weiter verstärkt.
Wie wirkt sich diese Entdeckung auf unser Verständnis der Erdgeschichte aus?
Diese Entdeckung hat weitreichende Folgen für unser Verständnis der Erdgeschichte. Forscher wissen nun, dass die Kratone – die als Fundament für die Kontinente gelten – nicht nur stabil sind, sondern sich auch dynamisch verändern können. Der Kraton wird durch die tropfenden Strukturen immer dünner – etwa 20 bis 50 Kilometer könnten durch diesen Prozess verloren gehen, allerdings geschieht dies über einen Zeitraum von 100 Millionen Jahren.
Geologen wie Thorsten Becker von der University of Texas in Austin erklären, dass solche Entdeckungen entscheidend sind, um zu verstehen, wie Kontinente entstehen, wie sie zerbrechen und wie Material innerhalb der Erde recycelt wird. Es ist die erste direkte Beobachtung eines sich ausdünnenden Kratons. Ähnliche tropfende Strukturen wurden zwar auch in der Türkei und an anderen Plattengrenzen entdeckt, aber nie unter einem stabilen Kraton wie dem nordamerikanischen.
Welche Auswirkungen hat diese Entdeckung?
Diese Entdeckung könnte das geologische Verständnis darüber, wie die Erde im Inneren funktioniert, revolutionieren. Wir wissen jetzt, dass Kontinente nicht unveränderlich sind, sondern sich aktiv verändern. Das wird die Art und Weise beeinflussen, wie wir die Entstehung und das Recycling von Kontinenten und Gesteinen über geologische Zeiträume hinweg verstehen.
Auch wenn diese Entdeckung die Stabilität der Kontinente nicht unmittelbar gefährdet, zeigt sie doch, dass die Erde weitaus dynamischer ist, als wir bisher angenommen haben. Wer hätte gedacht, dass der Kraton unter Nordamerika „tropft“? Dieser Vorgang wird zwar über Millionen von Jahren geschehen, doch die Entdeckung ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Erde ständig in Bewegung ist.
Ein überraschendes Bild der Erde
Mit dieser neuen Erkenntnis rückt unser Bild von der Erde als stabile, unveränderliche Plattform etwas ins Wanken. Die Entdeckung zeigt, dass selbst die stabilsten Erdstrukturen einem kontinuierlichen Wandel unterliegen. Das Ausdünnen der Kratone könnte ein allgemeineres geologisches Phänomen darstellen, das auch unter anderen Kontinenten stattfindet, nur dass es bisher nicht entdeckt wurde.