Ein sonniger Septembertag an der Seine. Die Kathedrale von Notre-Dame ragt in die Pariser Skyline. In neuer, alter Vollkommenheit. Der Mann, der das möglich gemacht hat, wirkt nervös. Er sitzt am Schreibtisch in einem Containerbüro, raucht, redet schnell. Dann springt er auf, rennt hektisch zwischen den Baugerüsten hin und her. Als müsse er immer noch eine unsichtbare Bedrohung von Notre-Dame abwenden. Philippe Villeneuve nennt Notre-Dame »meine Kirche«.
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist der 61-Jährige nun schon für das gotische Meisterwerk verantwortlich. Auf seiner Visitenkarte steht: »Chefarchitekt historischer Denkmäler«. Ein Titel, den keine 40 Menschen in Frankreich tragen. Villeneuve leitet den Wiederaufbau von Notre-Dame, der am 8. Dezember so weit abgeschlossen sein wird, dass die Kathedrale wieder eröffnet werden kann. Und Villeneuve war auch zuständig für die Restaurierungsarbeiten am legendären Vierungsturm, als das nationale Heiligtum am Abend des 15. April 2019 in Flammen geriet.
Oft denkt Villeneuve an die Stunden zurück. Als ihn die Nachricht erreichte, war er in seiner Heimat an der Atlantikküste, 300 Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt. Millionen Menschen auf der Welt verfolgten live, wie das Feuer wütete; wie 70 Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, Hubschrauber, Drohnen und Feuerwehrboote anrückten; wie 400 Einsatzkräfte gegen die Flammen kämpften. Doch Villeneuve blieb offline. Er brachte es nicht über sich, auf sein Handy zu schauen. Und so sah er auch nicht, wie um 19.56 Uhr der Vierungsturm, den er kurz zuvor hatte einrüsten lassen, funkensprühend zusammenbrach.
Neben dem Schmerz über die Zerstörung quälten Villeneuve Zweifel: Könnte seine Baustelle den Brand ausgelöst haben? Klarheit darüber hat er bis heute nicht. Ein Kurzschluss wird als Ursache vermutet. Wodurch der ausgelöst wurde, weiß niemand. Villeneuve sagt: »Das Feuer hätte niemals ausbrechen dürfen. Das Drama wird mich bis ans Ende meiner Tage begleiten.« Vielleicht erklärt das, warum Villeneuve in den kommenden Jahren ein so streitbarer Charakter war. Warum er dagegen kämpfte, moderne architektonische Akzente zuzulassen – und darauf bestand, dass »seine Kirche« exakt so wieder aufgebaut wird wie vor der Katastrophe. Und vielleicht erklärt es auch, warum er sich jeden rekonstruierten Teil – Fenster, Turm, Gewölbe – auf die Haut tätowieren ließ. Als könnte der Schmerz den Schmerz nehmen.
Zwei Stunden nahm er sich in Paris für P.M. Zeit, um jeden Schritt der Bauarbeiten zu erklären.
Was wurde bei dem Brand beschädigt?
Als Villeneuve am Morgen nach dem Brand auf der Île de la Cité eintraf, kam ihm Notre-Dame wie eine geisterhafte Ruine vor. Der Innenraum war von einer dicken Ascheschicht bedeckt. Der Dachstuhl, genannt »la forêt« (Wald), war vollständig den Flammen zum Opfer gefallen. An drei Stellen klafften riesige Löcher im steinernen Gewölbe. Wo der Vierungsturm stand, erzählt Villeneuve, habe er den Himmel sehen können. »La flèche« (der Pfeil), wie der schlanke spitze Turm genannt wird, durchbrach die mächtige mittelalterliche Decke oberhalb des Kirchenschiffs. Dank des frisch aufgestellten Gerüstes kippte er nicht, sondern stürzte innerhalb der Vierung (dort, wo sich Haupt- und Querschiff der Kirche kreuzen) in sich zusammen.
Wie gefährlich waren die Bergungsarbeiten?
Die bunten, lebendigen Bleiglasfenster seien von einem dichten Rußschleier bedeckt gewesen, erinnert sich Villeneuve. Dachbalken, Eisenornamente und Steinblöcke, die aus über 30 Metern Höhe herabgestürzt waren, hätten wie in einer Kriegsruine herumgelegen. »Die gefährliche Arbeit begann damit, alles Stück für Stück zu bergen.« Zum Vorschein kam der von Löchern übersäte Boden. Die Hitze hatte außerdem 400 Tonnen Blei verdampfen lassen oder zum Schmelzen gebracht.
Alle Steine und Holzelemente waren mit giftigem Feinstaub bedeckt. Wegen der Einsturzgefahr wurden ferngesteuerte Roboter eingesetzt, um den Schutt zusammenzutragen. Villeneuve: »Die Arbeiter trugen Atemschutzmasken gegen den Bleistaub. Bei jedem Verlassen der Baustelle mussten sie duschen und die Kleidung wechseln. Trotzdem hatten wir Glück im Unglück, dass nur die Gewölbe betroffen waren, die Mauern haben gehalten.« Die Struktur des Doms wurde nicht beeinträchtigt.
Was nahm er nach dem Brand als Erstes in Angriff?
»Zuerst ging es um die Stabilisierung und Sicherung des Bauwerks«, erklärt Villeneuve. »Das war ein enormer Aufwand. Allein wegen der Ausmaße des Gebäudes.« Notre-Dame ist 130 Meter lang, die Turmspitze des Flèche über 90 Meter hoch, die Kirchenfläche beträgt ins- gesamt 4800 Quadratmeter. Um Notre-Dame einzurüsten, war ein Gestänge aus 1200 Tonnen Metall nötig. Es dauerte Monate, bis es stand.
Worüber wurde beim Wiederaufbau am meisten gestritten?
»Die Rekonstruktion des Vierungsturms hat die meisten Diskussionen ausgelöst«, so Villeneuve. »La flèche« war in den 1840er- und 1850er-Jahren unter der Federführung des legendären Architekten Eugène Viollet-le-duc gebaut worden. Nun meldeten sich Stimmen, man solle ihn modernisieren. Zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron öffentlich über eine »zeitgenössische architektonische Geste« nachgedacht. Die Resonanz war gewaltig. Aus aller Welt trafen Vorschläge ein: für Glasdächer, Kristalltürme, Lichtinstallationen. Ein Archi-tekturbüro schlug sogar ein Gewächshaus auf dem Dach vor. Auch wurde darüber diskutiert, ob man nicht die alten Fenster von Jacques Le Chevallier von 1965 (Glas von rund 25 Quadratmetern Fläche) durch Fenster moderner Künstler ersetzen könnte.
Doch Villeneuve hatte große Zweifel. »Darf man eine Ikone wie Notre-Dame modernisieren«, fragt er rhetorisch. Die Initiative Macrons gefiel ihm gar nicht. »Plötzlich gab jeder seinen Senf dazu. Aber ich habe mich so auf die Kathedrale konzentriert, dass mir egal war, was andere dachten. Ich habe mich nicht gefragt, ob ich vielleicht gefeuert werden soll.« Er lacht. »Wie Sie sehen, bin ich immer noch hier.« Bei seinem Kampf hatte der streitbare Architekt mächtige Unterstützung: die Öffentlichkeit. Die Mehrheit dachte wie er. Unterschriftenaktionen wurden gestartet. Gegen die »Denkmalschändung und Blasphemie der Modernisierung«.
Über 120 000 Menschen unterzeichneten, worauf Macron seinen Vorstoß kassierte und öffentlich verkündete, Notre-Dame solle nach der Renovierung so nah wie möglich am Original bleiben. Damit stand fest, der Vierungsturm wird aufgebaut, wie er war; die Chevallier-Fenster werden wieder eingesetzt, und die Inneneinrichtung wird durch den Designer Guillaume Bardet originalgetreu wieder hergestellt: Altar, Lesepult, Bischofsstuhl, Tabernakel und Taufbecken aus Bronze sowie die 1500 vom Brand zerstörten Stühle des Innenraums aus massiver Eiche.
Wer hat alles bezahlt?
Auf die Frage reagiert Villeneuve mit einem Lächeln: »Die rund 2000 Mitarbeiter auf der Baustelle hatten über Jahre sicher viele Sorgen, aber die Finanzierung war keine davon.« Weltweit griffen Menschen, vom Kindergartenkind bis zum Multimillionär, für Notre-Dame in ihre Taschen. Knapp eine Milliarde Euro kamen in wenigen Tagen zusammen, der Großteil von den französischen Milliardärsfamilien Arnault, Bettencourt und Pinault.
Was waren die menschlichen Herausforderungen?
Als Macron nach dem Brand markig verkündete, der Wiederaufbau solle in fünf Jahren abgeschlossen sein, klang das auch für Villeneuve bedrohlich unrealistisch. »Wir standen vor einer architektonischen Herausforderung, die noch keiner von uns erlebt hat«, sagt er. »Die Baustelle war archäologisch und wissenschaftlich betrachtet ein Jahrhundertprojekt.« Allein das Zusammenspiel der verschiedenen Fachrichtungen: Geologen, Archäologen, Kunsthistoriker, Glas-, Holz- und Metallhandwerker, Bauingenieure, Akustiker, Digitalexperten … Insgesamt 2000 Fachleute mussten miteinander kommunizieren – und voneinander lernen.
Was sind die wichtigsten Bestandteile der Rekonstruktion?
»Die alten Steine«, sagt Villeneuve. Er ließ alle aus den Trümmern bergen und ordnen. Es waren Tausende. Eine »Arbeitsgruppe Stein« wurde gegründet, die jeden Stein untersuchte. Bei etlichen waren die Oberflächen pulverisiert, innen hatten sich Risse gebildet. Experten entwickelten eine Methode zur Versiegelung der Risse, indem sie Kalkschlamm in die Steine spritzten. Von den für die Statik so wichtigen Keilsteinen wurden rund 70 wiedergefunden. »Hatten die Steine ihre Maße um zwei Zentimeter verändert, war es kein Problem, sie wieder zu verwenden«, so Villeneuve. »Waren es jedoch zehn Zentimeter, so musste man sie ersetzen.«
Dazu versuchten Geologen, anhand von Fossilien und der Steindichte ihren Ursprung zu bestimmen. Sie entdeckten unter anderem, dass die Konsistenz etlicher Keilsteine zu einem Steinbruch im Vexin im Nordwesten passte. Am Ende wurden für den Wiederaufbau der zerstörten Gewölbeteile Kalksteine aus neun verschiedenen Steinbrüchen zusammengetragen. Genug für 1000 Quadratmeter Fläche.
Welche historischen Baustoffe mussten wiederhergestellt werden?
»Für den Mörtel mussten wir die exakt identische Konsistenz wieder herstellen«, sagt Villeneuve. Er bestand aus Kalk und dem Sand der Seine. Einige Architekten meinten, der Aufwand sei zu groß, und schlugen vor, für die Fugen herkömmlichen Zement zu verwenden. »Etwas Schlimmeres gibt es nicht«, sagt Villeneuve. »Zement ist härter als Stein und enthält Salz, er passt sich dem Grundmaterial nicht an.«
Eine weitere Herausforderung bestand darin, genug Holz für den Wiederaufbau zu organisieren. Die Baumeister in Paris riefen zu Baumspenden auf. Mit enormem Erfolg. Aus ganz Frankreich gingen 2000 Eichen in der Hauptstadt ein. Die ältesten Bäume wurden kurz vor der französischen Revolution gepflanzt. Sie bilden heute die Basis des Spitzturms.
Welche Rolle spielte KI?
»Leider hatten wir keine der mittelalterlichen Baupläne. Nichts, was uns etwa gezeigt hätte: Wie konstruiere ich einen Gurtbogen«, bedauert Villeneuve. Nach dem Brand ging die Meldung um, eine 3-D-Grafik Notre Dames aus dem Computerspiel »Assassin’s Creed Unity« könnte beim Wiederaufbau helfen. Das war ein Gerücht. Tatsächlich jedoch hatte der belgische Historiker Andrew Tallon wenige Jahre vor dem Brand ein digitales Modell von Notre-Dame erstellt, das auf einer zentimetergenauen Punktwolke aus Daten basiert. Mit ihrer Hilfe konnten der Bauplan des eingestürzten Teils des Rundbogens rekonstruiert und auch die Anordnung vieler Keilsteine lokalisiert werden.
Dennoch ist Villeneuve keiner, der sich gerne auf Computer und KI verlässt. »Denken Sie nicht, dass ich von gestern bin«, sagt er, »aber bei so einem Projekt sind die Schlussfolgerungen oft ungenau.« Besonders skeptisch reagierte er auf Versuche, die Flugbahnen der Steine während des Brandes digital zu simulieren. »Diese Methode ist zu 80 Prozent sicher. Das ist zu wenig.« Villeneuve verlässt sich bei seiner Arbeit lieber auf sein »Gefühl für alte Gemäuer«.
Was lernte er von den Baumeistern des Mittelalters?
»Vor allem das Tragwerk aus dem 12. Jahrhundert war eine statische Meisterleistung«, erklärt Villeneuve. Wie es acht Jahrhunderte überstehen konnte, fand man teilweise erst nach dem Brand heraus. Im Inneren des Mauerwerks wurde eine Art Metallskelett entdeckt, bestehend aus Bauklammern, die an riesige Büroklammern erinnern. Sie hielten das gesamte Gebäude zusammen. Diese Klammern aus Eisen und Blei waren teils einen Meter lang. Sie überraschten Villeneuve am meisten. »Die Baumeister damals haben unfassbar präzise Arbeit geleistet«, sagt er. »Sie haben ohne Algorithmen und Computer die höchsten Gewölbe der Christenheit erschaffen.«
Notre-Dame war das erste große Meisterwerk einer neuen französischen Architektur. Die filigranen Spitzbögen, das Strebewerk, die gigantischen Mauern mit den riesigen Fenstern waren revolutionär. Die neidischen Italiener nannten das boshaft »gotisch«, was bedeutet: »barbarisch«. Weil das Bauwerk unter anderem sehr anfällig für Feuchtigkeit war, musste das Gewölbe des Querschiffs im 18. und 19. Jahrhundert mehrmals wieder aufgebaut worden. Nur das Hauptschiff stammt noch aus dem 12. Jahrhundert.
Welches waren die schönsten Momente auf der Baustelle?
Die Arbeit der Bildhauer, die eine Chimäre von Viollet-le-Duc identisch wiederherstellten, habe ihn zutiefst bewegt, sagt Villeneuve. Am schönsten aber sei der Moment gewesen, als Mitte Februar 2024 die Spitze des Vierungsturms enthüllt wurde. Gekrönt vom neuen »le coq d’or« – dem goldenen Hahn. Der Moment war deshalb so besonders, weil Villeneuve damit gefühlt in die Fußstapfen des großen Architekten Viollet- le-Duc trat, der im Jahr 1860 den alten »le coq d’or« mitgestaltetet hatte. Zuvor war es Villeneuve gewesen, der den alten Hahn in den Trümmern entdeckt hatte. »Es war am Tag nach dem Brand«, erinnert er sich. »Ich war mit den Feuerwehrmännern auf dem Nordturm. Ich sah von oben einen grünen Fleck und dachte: Da ist der Hahn von Viollet-le- Duc.« Er zog ihn zwischen den Holzresten hervor. Jetzt, da der neue Hahn über den Dächern von Paris glänzt, kommt er ihm vor wie ein Phönix aus der Asche.
Welche Vorkehrungen wurden gegen eine neue Brandkatastrophe getroffen?
Zu den wichtigsten Restaurierungsmaßnahmen gehört der Einbau eines Bewässerungssystems unter dem Dach, das in Zukunft vor Feuer schützen soll. »Fogging« heißt es. Villeneuve erklärt: »Das sind kleine Sprinkler, die feuchten Nebel erzeugen und dadurch den Sauerstoff in der Luft reduzieren, damit sich ein Feuer gar nicht erst so ausbreiten kann.«
Wann werden die Arbeiten abgeschlossen sein?
Fünfeinhalb Jahre nach dem Brand von Notre-Dame sind die Restaurierungsarbeiten so weit, dass die Wiedereröffnung stattfinden kann. Auch Papst Franziskus wird zu den Feierlichkeiten erwartet. »Unser Ziel war, dass die Menschen ab dem 8. Dezember wieder in die Kirche gehen können«, sagt Villeneuve. »Das haben wir geschafft. Die Glocken von Notre-Dame läuten wieder.« Seine stolze Bilanz: »Alles, was wir gelernt und erforscht haben, hat es in der klassischen Restaurationslehre in Frankreich noch nie gegeben. Was wir gemacht haben, war nicht nur modern, es war ökologisch und nachhaltig, auch in der Verwendung von Materialien.« Abgeschlossen sind die Arbeiten dennoch nicht. Nach den Feierlichkeiten zur Wiedereröffnung wird im nächsten Schritt die Sakristei renoviert. »Bis 2028 haben wir rund um die Kathedrale noch sehr viel zu tun«, sagt Villeneuve. »Erst danach werden wir uns allmählich zurückziehen.«
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