Die Spielregeln einer demokratischen Gesellschaft sind in Verfassungen niedergeschrieben. In Chile wurden diese Grundregeln seit der Unabhängigkeit 1810 stets von politischen Eliten formuliert, die auf diese Weise die Kontrolle über das Land zu bewahren versuchten. Doch das soll nun vorbei sein: Das Land entwirft derzeit eine neue Verfassung – und niemals zuvor waren daran so viele Bevölkerungsgruppen beteiligt. Am 4. Juli 2021 wählten die Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents Elisa Loncón Antileo zu ihrer Präsidentin – eine Vertreterin des indigenen Mapuche-Volks. In einer Rede nach der Wahl formulierte sie die Hoffnungen, die viele mit der Reform verbinden: »Der Traum unserer Vorfahren wird jetzt Wirklichkeit. Der Verfassungskonvent wird Chile zu einem plurinationalen, interkulturellen Chile machen, in dem die Rechte der Frauen und der Sorgearbeitenden geachtet und in dem die Mutter Erde und das Wasser geschützt werden.« Die alte Verfassung stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur.
Unruhen im Jahr 2019 als Auslöser
Auslöser für die Neufassung der Gesellschaftsordnung waren Unruhen im Jahr 2019. Der Protest, zunächst gegen höhere Preise im Nahverkehr, weitete sich aus. Schließlich demonstrierten Millionen von Chilenen für Reformen und eine neue Verfassung. In einem Referendum stimmten im Oktober 2020 gut drei Viertel der Wählerinnen und Wähler für den Vorschlag des chilenischen Parlaments, die nationale Verfassung neu zu schreiben. Im Mai 2021 wählten etwa 15 Millionen Wahlberechtigte 155 Delegierte für den Verfassungskonvent. Dabei wurden vorab 17 Mandate Vertreterinnen und Vertretern der indigenen Gemeinschaften zugeteilt – einmalig in der chilenischen Geschichte. Die Verfassungsversammlung hat noch bis Mitte des Jahres Zeit, den neuen Text der Verfassung zu schreiben. Dann gibt es ein weiteres Referendum, bei dem die Chilenen im Idealfall ein »Vale!«, ein »Gut so!«, erklären können.
(Text: Dieter Möller)