Was Big Data über Kriege verrät

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Foto: © REUTERS
Aus ungeheuren Datenmengen im Internet wollen Forschende ablesen, wo bald Konflikte ausbrechen. Ziel ist es herauszufinden, wann ein nächster Weltkrieg droht. Aber lassen sich derartige Katastrophen wirklich vorhersagen?

Als in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 die ersten russischen Panzer auf ukrainisches Gebiet rollten, da fiel Europa aus allen Wolken. Und das, obwohl vorher monatelang Truppen an der Grenze zusammengezogen wurden. Obwohl Präsident Putin schweres Kriegsgerät verlegen und Militärmanöver abhalten ließ. Trotzdem traf dieser letzte Schritt, der Angriff auf die Ukraine, den Westen und die Ukraine selbst überraschend. »Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht«, fasste Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock den Schock in Worte.

Dabei sind gewalttätige Konflikte Realität für Millionen von Menschen. In 22 Ländern herrscht derzeit Krieg, zählt das internationale Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED). Die Formen und Definitionen des Krieges haben sich dabei ausgeweitet: Heute stehen sich nicht unbedingt die Armeen zweier Länder gegenüber, sondern immer häufiger auch nicht staatliche bewaffnete Gruppen und Fraktionen: Bürgerkriege in Jemen, Äthiopien und Myanmar, von Terrorgruppen angefachte Unruhen im Tschad und Irak, Drogenkrieg in Mexiko und Kolumbien. 110 369-mal stießen weltweit verfeindete Kräfte zwischen Februar 2021 und Februar 2022 aufeinander.

Lassen sich Kriege zwischen Nationen oder innerstaatliche Konflikte mit Big Data voraussagen?

Wann genau ein Konflikt aufflammt, das wüssten Regierungen, Streitkräfte und Bevölkerungen nur zu gern. In der Vergangenheit verließen sie sich dabei auf Thinktanks und diplomatische Beziehungen – und natürlich die Geheimdienste. Aber mittlerweile übernehmen immer öfter Computer und Algorithmen diese Aufgabe. So wie bei ACLED sammeln Forscher und Forscherinnen auf der ganzen Welt Unmengen digitaler Daten aus dem Internet: beispielsweise Behördenpapiere, Medienberichte und Aktivitäten in den sozialen Netzwerken. Sie wollen Kämpfe und Gewalt nicht nur dokumentieren – sondern vorher davor warnen können.

Schon immer haben Menschen genau das versucht. In Mesopotamien lasen Priester kommende Kriege aus den Eingeweiden von Opferlämmern ab. Die Römer beobachteten die Konstellationen des Mars. Und noch heute gilt die Theorie des griechischen Militärhistorikers Thukydides (454–ca. 400 v. Chr.): Nach ihr brechen Kriege dann aus, wenn eine aufstrebende Macht die herrschende Macht herausfordert. So sagte Thukydides den Peloponnesischen Krieg zwischen der alteingesessenen Regionalmacht Athen und dem militärisch aufstrebenden Sparta voraus, in dem Athen besiegt wurde.

Panzer, Militäruniform, Transport
Im Januar 2022, nur Wochen vor dem Angriff auf die Ukraine, lässt das russische Militär Schützenpanzer des Typs BMP-3 für eine Übung auffahren. Britische und US-amerikanische Geheimdienste warnten damals bereits vor einer Invasion. Foto: © Sergey Pivovarov/REUTERS

Forschende sprechen von der Thukydides-Falle

Moderne Kriegsforschende nennen dieses Phänomen die Thukydides-Falle. Der Begriff geht zurück auf den Politologen und Harvard-Professor Graham Allison. Er analysierte 16 kritische Situationen aus den vergangenen 500 Jahren. Auch wenn in ihrem Verlauf mehrere Akteure am Konflikt beteiligt waren: Allison konnte jedes Mal eine neue und eine etablierte Macht identifizieren, durch die sich die Thukydides-Falle aufspannte.

Zwölfmal schnappte sie erwartungsgemäß zu, zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg (hier – ab 1630 – Herrscher: Habsburger, Herausforderer: Schweden), im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714, Platzhirsch: die absolutistische Großmacht Frankreich, Herausforderer: die kommende Seemacht England) und im Ersten Weltkrieg (1914–1918, Regionalmacht Großbritannien, aufstrebende europäische Kraft Deutschland). Aber viermal konnte der Krieg auch verhindert werden, zum Beispiel im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion (Herausforderer) und den USA (Weltgroßmacht) nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals entwickelte sich stattdessen ein Gleichgewicht, indem sich Ost und West durch Atomwaffen in Schach hielten – eine riesige Abschreckung, denn im Angriffsfall hätten sich die Mächte gegenseitig vernichtet.

Sitzen China und die USA schon in der Thukydides-Falle?

Auch heute besteht nach Ansicht von Militärhistorikern und Konfliktforscherinnen wieder eine kritische Situation: Die USA fühlen sich – und sind auch – als Weltmacht vom ökonomisch aufstrebenden China herausgefordert. Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa, warnte schon 2018 auf der transatlantischen Sicherheitskonferenz Warsaw Security Forum: »Ich denke, dass wir in spätestens 15 Jahren Krieg mit China führen werden.« Auch eine Beteiligung Russlands sei wahrscheinlich. Die Konfliktpunkte zwischen den beiden Supermächten China und USA: Nordkorea, Taiwan und das gesamte Südchinesische Meer. Könnte Thukydides diese Situation beobachten, so Graham Allison, er würde sagen: Die Falle ist gestellt.

Klären sollen das Computerexperten und Mathematikerinnen. Einige arbeiten für Geheimdienste und das Militär, andere für Forschungseinrichtungen oder private Unternehmen, manche für mehrere Seiten. Die wichtigsten Organisationen sind die US-Firma Lockheed Martin mit ihrem Integrated Crisis Early Warning System, das Alan Turing Institute in London und die Political Instability Task Force der US-Regierung. Aber auch eher kleine Firmen entwickeln neueste Technologien zur Konfliktprognose. So wie Predata in New York.

Person, Mensch, Kleidung
Mit Kalaschnikows aus Holz trainieren Ukrainer und Ukrainerinnen Anfang Februar 2022 den Kampf gegen eine mögliche Invasion durch Russland. Foto: © imago images/ZUMA Wire

Predata nutzt Computerprogramme, die riesige Mengen von Daten schürfen

Predata wurde vom Ex-CIA-Agenten und Politikexperten James Shinn gegründet. Die Firma durchforstet das Netz nach Hinweisen auf bevorstehende Konflikte. Shinn kam auf die Idee, als er Propagandavideos der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) anschaute. Die Videos waren aufschlussreich – aber noch viel interessanter waren die Kommentare darunter. Allein ihre Menge verrät bereits viel darüber, wie brenzlig eine Situation ist.

Für seine Vorhersagen von Terroranschlägen, Bürgerkriegen und militärischen Konflikten nutzt Predata »Scraper«: Computerprogramme, die im Internet riesige Mengen von Daten schürfen und sie auswerten. Öffentlich zugängliche Websites werden nach Schlüsselwörtern durchsucht und mit realen Ereignissen verknüpft: Wo bricht die Wirtschaft ein, wo regt sich Widerstand gegen eine Regierung? Zehntausende Twitter-Feeds, Wikipedia-Seiten und Youtube-Kanäle aus 200 Ländern schafft das Predata-Team – jeden Tag.

»Wir können einen Angriff bis zu 90 Tage im Voraus prognostizieren«

Ölkonzerne und Finanzinvestoren, aber auch staatliche Behörden und Regierungen sind an den Diensten von Predata interessiert. So analysierte die Firma etwa die Wahrscheinlichkeit, dass nach dem Friedensvertrag im Südsudan wieder Kämpfe aufflammen. Eines der Signalwörter war »#SPLM-IO«, der Hashtag für die militante Bewegung »Sudan People’s Liberation Movement-in-Opposition«. Predata überwachte die Online-Aktivitäten mit diesem und anderen Hashtags – gab es eine Häufung, stieg auch das Risiko für eine Eskalation. Der Konflikt schwappte sozusagen aus dem Internet ins echte Leben.

»Wir können einen Angriff bis zu 90 Tage im Voraus prognostizieren«, erklärte Shinn dem Magazin »Business Insider«. So ist es Predata nach eigenen Angaben sogar gelungen, den Anschlag auf das Konzerthaus Bataclan in Paris – ein Höhepunkt des Krieges des IS gegen den Westen – mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Allerdings: Im Bataclan hatte es schon vorher mehrere islamistisch motivierte Angriffe gegeben. Ohne diese Vorgeschichte hätten Predatas Algorithmen den Ort womöglich nicht identifizieren können. Noch schwieriger wird es, wenn man nicht nur den Schauplatz, sondern auch den genauen Zeitpunkt einer Attacke absehen möchte.

Netzwerk, Kronleuchter, Lampe

Ob ein Konflikt ausbricht, hängt nicht nur davon ab, wer kämpft, sondern auch davon, wo: Das hat Weisi Guo, Professor für Human Machine Intelligence an der britischen Cranfield University, herausgefunden. Er untersucht, wie räumliche Verbindung und Gewaltausbrüche zusammenhängen. Seine Algorithmen zeigten am Beispiel Syriens: Städte, in denen der IS aktiv wurde, waren besonders gut strategisch vernetzt mit ihrer Umgebung. Sie lagen häufig auf der Seidenstraße, die man kreuzen muss, wenn man von einem Ort zum anderen reist. Solche Knotenpunkte erwiesen sich als besonders instabil: Die eher kleine Stadt Dayr az Zawr etwa blieb einer der letzten Rückzugsorte des IS. Foto: © PR-Bild

Die Basis für die Vorhersagen der Forschung bildet Big Data

Das sind digitale Informationen, die manchmal aus Reisepasslisten von Fluggesellschaften oder internen Sicherheitsdossiers stammen, meistens aber aus öffentlich zugänglichen Quellen, der Open Source Intelligence. Der gebürtige Österreicher Stefan Wuchty, eigentlich ein Bioinformatiker, arbeitet an der University of Miami im Auftrag des amerikanischen Verteidigungsministeriums an einer Echtzeitvorhersage. Er sollte zum Beispiel herausfinden, wann und wo Terroreinheiten des IS angreifen.

In einer Studie untersuchten Wuchtys Scraper dafür die russische Plattform VK.com, die ähnlich aussieht und funktioniert wie Facebook, aber auch eine arabische Version besitzt und im Gegensatz zu Facebook Posts mit IS-Inhalten nicht sofort löscht. Nicht die Inhalte erwiesen sich aber letztlich als entscheidend – sondern die schiere Aktivität der Nutzerinnen und Nutzer. Wuchtys Team beobachtete unter anderem, wann sich auf VK besonders viele neue Sympathisantengruppen für den »Islamischen Staat« gründeten. Nach den Gruppen suchte Wuchty mit Hashtags wie »#khilafa« (»Kalifat«) oder »#fisyria« (eine Propagandaplattform tschetschenisch-syrischer Terrorgruppen). Wenn sich nicht viel änderte, blieb es auch im realen Leben ruhig. Wenn sich aber plötzlich auffällig viele neue Gruppen bildeten und intensiv austauschten, dann schnellte auch das Risiko für einen Anschlag in die Höhe.

Kleidung, Bekleidung, Städtisch
Der Tag nach der russischen Invasion: Natali Sevriukova steht vor ihrem Haus in Kiew, das ein Raketenangriff zerstörte. Bricht ein Konflikt aus, trifft das die Menschen oft überraschend. Foto: © Emilio Morenatti/AP/ dpa picture alliance

Konflikte lösen in sozialen Netzwerken Vorbeben aus

Wuchtys Programme funktionieren wie eine Art Seismograf für geopolitische Zwischenfälle. Konflikte lösen in den sozialen Netzwerken Vorbeben aus, die gemessen werden können und den bevorstehenden Ausbruch anzeigen. Aber auch Wuchty kann nur kurzfristige Warnungen herausgeben. Ob der nächste Weltkrieg zwischen China und den USA in 15 Jahren stattfindet – das kann er heute nicht sagen. 

Attentate oder Bürgerkriege in naher Zukunft dagegen lassen sich mittlerweile oft vorhersehen. Dafür gibt es klare Anzeichen, die von leistungsfähigen Rechnern erkannt werden können. Die Wissenschaft nennt das »White Swan Events«, weil sie so wenig eine Ausnahme sind wie weiße Schwäne. Sie halten sich an statistische Gesetze und können kaum jemanden überraschen.

Viele Ereignisse sind »Grey Swan Events«

Deren Risiko ist zwar bekannt, aber der Mensch ignoriert die Vorzeichen – weil die Vorbereitung darauf zu viele Ressourcen binden würde oder er sie schlichtweg nicht wahrhaben will. Beispiele dafür sind die Anschläge vom 11. September 2001, die Bankenkrise von 2008, die Corona-Pandemie oder jetzt der Ukraine-Krieg. Und es gibt auch noch »Black Swan Events«: Sie können überhaupt nicht vorausgesagt werden – entweder weil sie sich nicht nach statistischen Regeln entwickeln oder weil sie hinter verschlossenen Türen vorbereitet werden.

Längst nicht alle Konfliktforschenden glauben an die unbedingte Vorhersagekraft der Daten. Einer von ihnen ist Lars-Erik Cederman von der Schweizer Elite-Universität ETH (siehe Interview auf Seite 30). Was gute Prognosen so schwierig mache: »Die Weltgeschichte«, warnt Cederman, »ist nie eine lineare Abfolge logisch aneinandergereihter Ereignisse. Vielmehr verläuft sie oft sprunghaft und unvorhersehbar.« Es sei schon schwierig vorherzusagen, wie Wahlen ausgehen, obwohl diese bekannten Gesetzmäßigkeiten folgen. »Bewaffnete Konflikte sind nicht nur viel seltener, sondern auch sehr viel komplexer.« Zwar folge ihre Wahrscheinlichkeit zum Teil erforschbaren Regelmäßigkeiten, nicht aber festen Gesetzen oder gar Terminen. Man könne nicht einfach die Zukunft aus vergangenen Ereignissen extrapolieren.

Rauch, Feuer, Fahrzeug
Raketen treffen bei einer gemeinsamen Militärübung von Südkorea und den USA aufgemalte Ziele bei Pocheon – nahe der demilitarisierten Zone zu Nordkorea. In dem Konflikt zwischen Nord- und Südkorea geht es auch immer um die Interessen Chinas und der USA. Foto: © REUTERS

»Der derzeitige Frieden ist weniger stabil, als viele denken«.

Genau das macht aber Aaron Clauset, Professor für Informatik mit Schwerpunkt Daten und komplexe Systeme an der University of Colorado in Boulder. Er analysierte die Daten aus 95 Kriegen zwischen 1823 und 2003 und aus den friedlichen Phasen dazwischen und zog daraus mithilfe statistischer Methoden Schlüsse. Zwar kann auch er nicht sagen, ob in den nächsten 15 Jahren ein Weltkrieg ausbricht. Aber er betont, »dass der derzeitige Frieden weniger stabil ist, als viele denken«.

Doch selbst wenn China und die USA Krieg führten, würden sie nach Clausets Computersimulationen wohl keine Atomwaffen einsetzen: Die Menschheit wird nämlich frühestens in 383 Jahren, spätestens in 11 489 Jahren, am wahrscheinlichsten in 1339 Jahren durch einen Krieg ausgelöscht werden, zeigt seine Statistik. Besonders exakt ist die Vorhersage nicht. Aber es bleibt ja noch genug Zeit, sie zu präzisieren.

(Text: Michael Kneissler und Marlene Göring)

Die P.M.-Redaktion besteht aus einer Hauptredaktion und einer Vielzahl freier Autorinnen und Autoren. Die Magazine „P.M.“, „P.M. Schneller schlau“ und „P.M. History“ erscheinen monatlich und beschäftigen sich mit Themen rund um Physik, Chemie, Biologie, Natur, Psychologie, Geschichte und vielen mehr.
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