Die atemberaubende Gebirgslandschaft der Türkei erzählt nicht nur von ihrer natürlichen Schönheit, sondern auch von gewaltigen geologischen Kräften, die seit Millionen von Jahren unter der Oberfläche wirken. Ein jüngst entdecktes Phänomen könnte die Geologie der Region für immer verändern. Tief unter der Oberfläche der Türkei, verborgen unter Schichten von Gestein, schlummert ein uraltes Kapitel der Erdgeschichte: ein Überbleibsel des längst verschwundenen Neotethys-Ozeans.
Dieser urzeitliche Ozean erstreckte sich einst zwischen der Arabischen und der Eurasischen Platte und verschwand vor etwa 60 Millionen Jahren, als die Arabische Platte nach Norden wanderte und den Neotethys unter die Eurasische Platte schob. Doch ein Stück dieser ozeanischen Kruste hat die Zeit überdauert und hängt wie ein gigantischer Anker an der Arabischen Platte. Die kontinuierliche Bewegung der Platten setzt diese Reliktstruktur unter Spannung – ein geologischer Countdown, der irgendwann ablaufen wird.
„Unter der Türkei ist dieser Riss schon vollzogen, unter dem Zagros-Gebirge im Irak dagegen nicht“, erklärt Renas Koshnaw von der Universität Göttingen, Hauptautor der neuen Studie zu diesem Phänomen. „Dort zieht das enorme Gewicht des ozeanischen Plattenstücks das Gebirgsvorland nach unten und hat eine besonders tiefe, sedimentgefüllte Senke erzeugt.“
Doch was bedeutet dies für die Landschaft an der Oberfläche? Vergleichbar mit dem Ziehen an einer Tischdecke, die sich dadurch bewegt, wirkt auch das Ziehen des Plattenstücks auf die Erdkruste der Türkei und des angrenzenden Irak. Das Abreißen der ozeanischen Kruste führt zu Hebungen und Senkungen, die tiefe Becken und Gebirgszüge formen. Diese dynamischen Veränderungen haben weitreichende Auswirkungen auf das Relief der Region und beeinflussen Flüsse, Täler und sogar das Klima, da Gebirge als natürliche Barrieren für Luftmassen und Niederschläge fungieren.
Der Spannungsaufbau durch diese tektonischen Prozesse erhöht auch das Erdbebenrisiko erheblich. „Erschütterungen könnten auftreten, genau wie ein Teppich, an dem man zieht und der dann plötzlich eine Falte wirft. Nur dass es auf der Erdoberfläche keine kleinen Falten sind, sondern potenziell zerstörerische Erdbeben,“ erklärt Jonas Kley, einer der Co-Autoren der Studie.
Geophysikalische Methoden wie die Analyse seismischer Wellen, Schwerkraftmessungen und die Untersuchung von Sedimentverteilungen haben das Bild dieser unterirdischen Prozesse erstellt. Seismische Wellen ändern ihre Geschwindigkeit je nach Material und erlauben somit einen Blick in die Erdstruktur, vergleichbar mit einem Ultraschallbild. Schwere Anomalien und Sedimentmuster ergänzen dieses Bild und ermöglichen detaillierte Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Untergrunds.
Die Bedeutung dieser Forschung geht über die rein wissenschaftliche Faszination hinaus. „Diese Untersuchungen helfen uns, die Funktionsweise der starren äußeren Schale der Erde zu verstehen,“ unterstreicht Kley. „Sie bieten grundlegende Erkenntnisse für praktische Anwendungen, seien es die Suche nach Erzlagerstätten, geothermische Energie oder die Abschätzung von Erdbebenrisiken.“
Was bedeutet dies konkret für die Zukunft der Region? Die ständige Verformung der Erdkruste, kombiniert mit der nach Norden drängenden Arabischen Platte, gestaltet eine Geografie in ständiger Veränderung. Neue Gebirgszüge könnten entstehen, während sich bestehende Täler weiter vertiefen. Solche Veränderungen beeinflussen die Verteilung von Wasser und haben somit direkte Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Lebensbedingungen der Bevölkerung.
Eines ist sicher: Die tektonischen Dramen unter unseren Füßen gestalten die Welt, in der wir leben, in einem unaufhaltsamen, aber für uns Menschen kaum wahrnehmbaren Tempo. Diese Erkenntnisse bieten einen wichtigen Blick in die Zukunft und helfen uns, besser auf die geologischen Herausforderungen vorbereitet zu sein, die uns möglicherweise erwarten.