Schon in den 1990er-Jahren gab es Versuche, Erinnerungen, die in den sterblichen Gehirnen von Menschen gespeichert sind, in digitale historische Archive zu übertragen, um sie so der Vergänglichkeit zu entziehen. Eines der größten Projekte dieser Art entwickelte der Filmregisseur Steven Spielberg. In seinem »Visual History Archive« sammelte er mehr als 50 000 Videos von Interviews mit Zeitzeugen des Holocaust. Er sicherte die Filme digital und erschloss sie für die Nachwelt, indem er sie in eine Datenbank einsortieren ließ. Es funktionierte: Zwar sind viele der damals Befragten inzwischen gestorben. Doch ihre Erinnerungen an die Nazi-Gräueltaten werden die Zeiten überdauern und können heute weltweit von Historikern und Studenten unkompliziert genutzt werden.
Ähnliches wollen auch die Macher der »Topotheken« erreichen – wenn auch auf einem viel niedrigeren Level. Ihnen geht es nicht um die Archivierung welthistorisch bedeutsamer Zeugenaussagen, sondern um kleine Lokalgeschichten. Dazu haben sie eine Reihe von Online-Archiven eröffnet, in die Fotos und Dokumente hochgeladen werden können, die für einen bestimmten Ort bedeutsam sein könnten. Gegründet hat die Topotheken vor ein paar Jahren der Österreicher Alexander Schatek. Unter topothek.at werden hier nun Zeitungsausschnitte oder historische Fotos zugänglich gemacht. Hochgeladen wird all das von freiwilligen Hobbyhistorikern, die dafür ihre privaten Archive öffnen. In Österreich gibt es in zwischen Dutzende solcher Topotheken, in Deutschland erst einige wenige. Doch das kann sich schnell ändern, denn je der, der sich berufen fühlt, kann jederzeit eine neue Topothek gründen und eigene Dokumente hochladen.
Im Deutschen Museum wartet ein pensionierter Drucker die Maschinen
Auf ähnlich praktische Art nutzen auch Museen immer häufiger das Wissen der Alten. Das Deutsche Museum in München etwa arbeitet mit Ehrenamtlichen wie dem 66 Jahre alten Drucker Peter Clara zusammen. Als der Münchner Rentner in den 1970er-Jahren seine Lehre begann, war die Digitalisierung noch ganz weit weg. Mühsam lernte er damals den Handsatz mit Bleilettern – ein Verfahren, das heute praktisch nicht mehr existiert. Er druckte Briefbogen, Visitenkarten und Reiseführer an Maschinen, die heutzutage kein Betrieb mehr benutzen würde.
Doch seit sich Clara dem Deutschen Museum als Ehrenamtlicher zur Verfügung gestellt hat, ist sein vermeintlich veraltetes Wissen wieder gefragt. Denn all die Doktortitel der jungen Kuratoren helfen nun mal nicht, wenn eine der historischen Maschinen klemmt. Clara hingegen kennt ihre Eigenarten und weiß, mit welchen Tricks er sie wieder zum Laufen kriegt. Dass dieses handwerkliche Wissen früher oder später aussterben wird, darüber macht sich Clara keine Illusionen. »In Form von Büchern wird das vielleicht überdauern. Verschwinden wird eine andere Form des Wissens. Das Wissen, das wir Alten noch in den Händen haben.«
Verschwinden wird die Form von Wissen, die wir Alten noch in den Händen haben.
Peter Clara, pensionierter Drucker
Und manchmal auch in den Augen. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die heute noch die alten deutschen Schriften Fraktur, Kurrent oder Sütterlin lesen können. Was vor 100 Jahren noch jedes Schulkind lernte, ist für heutige Heranwachsende kaum lesbarer als ein ägyptischer Papyrus. Gabriele Kister-Schuler hingegen kann die alten Schriften genauso gut lesen wie die aktuell benutzten Varianten. Die 70 Jahre alte Chemnitzerin hat Geschichtswissenschaft studiert. Zu alten Buchstaben pflegt sie eine innige Beziehung: »Ich bin mit alten Gesangbüchern groß geworden«, sagt Kister-Schuler. »In der Volksschule bekamen wir noch Noten im Fach Schönschrift.« Später befasste sich die Historikerin auch beruflich mit den alten deutschen Schriften. Nun, da sie nicht mehr arbeitet, steuert sie ihr Wissen im Rahmen von Citizen-Science-Projekten bei – für sie ein schöner Zeitvertreib. »Mein Mann liebt Puzzle, ich transkribiere«, sagt Kister-Schuler. »Das ist für mich wirklich enorm entspannend.«
Besonders interessant findet sie das Projekt Transcribathon. Mehr als 300.000 Dokumente gibt es auf dieser digitalen Plattform, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, historische Dokumente zu erschließen und der Forschung zugänglich zu machen. Meist sind es längere Texte, zum Beispiel alte Tagebücher, die nach und nach von Freiwilligen aus ganz Europa entziffert, digitalisiert und einsortiert werden. Viele davon sind handgeschrieben.
Alte Tagebuch-Einträge: Ein Code, den es zu knacken gilt
Zum Beispiel das Tagebuch von Ernst Schwalm. Der thüringische Lehrer war beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs schon zu alt, um selbst an der Front mitzukämpfen. Also verfolgte er das Kriegsgeschehen von zu Hause. Er las die Heeresberichte und die Presse und schrieb alles in sein Tagebuch. Auf diese Weise entstand eine dichte Chronologie der Kriegsjahre 1915 bis 1918. Schwalms Schrift ist für heutige Menschen kaum zu entziffern, selbst wenn sie Kurrentschrift lesen können. Das knappe Papier hat er ohne Rand vollgeschrieben, die Linien seiner Schrift sind verschwommen. Ortsbezeichnungen, die er mitunter verwendet, gibt es heute nicht mehr – ein Problem.
Für Kister-Schuler die richtige Aufgabe: Sie liebt es, solche Texte trotz aller Widrigkeiten zu knacken wie einen Code. Sie liebt es, in das Leben dieses Mannes einzutauchen, eine Handschrift kennenzulernen und mit der Zeit zu merken, wie man etwas, das am Anfang fast unleserlich erscheint, immer schneller und sicherer entziffern kann. Die Frage »Kriege ich das überhaupt entschlüsselt?« ist für sie auf jeder neuen Seite »das Salz in der Suppe«. Und all das dient einem guten Zweck – nämlich alles für die forschende Nachwelt zu erhalten. »Das Wissen der Jungen heute ist irgendwann das Wissen der Alten«, sagt Kister-Schuler.
Womöglich müssen die heute Jungen dann einer neuen Generation erklären, wie man ein iPhone bedient oder was Instagram ist.
(Text: Ulf Schönert)